Die Geister, die ich rief..
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Die Geister, die ich rief..

Von der Lüge im Politischen – Teil 1
Ein Gastbeitrag von Susannah Winter

Mal offen, mal unterschwellig: Der Vorwurf, in der Politik und der politikbegleitenden medialen Berichterstattung würde permanent gelogen, ist omnipräsent. Aber auch Medien und Politiker gehen mit dem Vorwurf der Lüge nicht zimperlich um. Der politische Gegner, das Internet, die Umfragen der anderen: Kein Ort, an dem nicht angeblich gelogen würde, dass sich die Balken biegen.

Diese Idee führte dann wohl auch dazu, dass die Gesellschaft für deutsche Sprache das Wort „postfaktisch“ zum Wort des Jahres kürte. Dabei darf „postfaktisch“ als Begriff an sich als „postfaktisch“ angesehen werden, impliziert er doch, es hätte vorher eine „faktische“, also faktentreuere Zeit gegeben. Ein Trugschluss. Hätte es auch zum Unwort eher getaugt, gereicht es in „postfaktischen“ Zeiten jedoch oft, in aller Munde zu sein für Ruhm und Ehr‘.

Seitdem der US-amerikanische Psychologe John Frazier Zahlen veröffentlichte, nach denen der Durchschnittsbürger etwa 200 Mal am Tag lügen würde, geistert eben diese Zahl durchs Netz. Der regensburger Psychologe Harald Lukesch hat bereits 2011 diese Zahlen überprüft und kam, wie diverse andere Studien, zu einem gänzlich anderen Ergebnis:

Eine Lüge war demnach „der Ausdruck einer subjektiven Unwahrheit mit Ziel und Intention, im Partner einen falschen Eindruck zu schaffen oder zu erhalten“. Übertreibungen und Auslassungen zählten dazu, Höflichkeiten wie ein nicht aufrichtig gemeintes „Guten Tag“ nicht. Die Probanden kamen auf 1,8 Lügen pro Tag, und diese Zahl stimmt erstaunlich gut überein mit anderen Studien – auch da log der Durchschnittsmensch etwa zweimal pro Tag.

Wirklich relevant an dieser Stelle ist jedoch nicht die Zahl, sondern die Definition der Lüge. Das Wesen der Lüge ist vornehmlich die Intention, der Vorsatz. Wer anderen also eine Lüge vorwirft, der sollte besser in der Lage sein nachzuweisen, dass wider  besseren Wissens die Unwahrheit gesprochen wurde. Sei es, um sich besser darzustellen, sei es für andere Formen der eigenen Vorteilsnahme. Eine Lüge ist, ganz ähnlich einer Straftat, demnach auch Tat eines Individuums. Damit erübrigt es sich von selbst, einer ganzen Berufsgruppe „Lügner“ zuzurufen.

In der Politik, in Zeiten von Fraktionszwang und populistischer Richtungsänderungen bei drohendem Verlust von Umfragewerten und Macht, dürfte die Lüge tatsächlich keine Seltenheit sein, doch sicherlich fern vom „Die lügen doch alle ununterbrochen“, das ein „ehrlicher“ und sehr besorgter Teil der Bürger für wahrscheinlich hält.

Im Politischen relevanter hingegen sind wohl die Grauzonen der Lüge. Spielarten der Auslegung und Definition von Worten, Sätzen, Gesetzen. Umdeutungen, die, obwohl selten klar als „Lüge“ auszumachen, durchaus als solche wahrgenommen werden.

Und trotz aller anderslautender Behauptungen sind es durchaus nicht nur Populisten und das Medium Internet, die den „tiefgreifenden politischen Wandel“ ab von Fakten einläuteten, wie die Gesellschaft für deutsche Sprache behauptete, als sie eine Erklärung zur Wahl des Wortes „Postfaktisch“ abgab.

Lüge oder Wahrheit?

Unabhängig  von der Frage nach Lüge oder Wahrheit, schwarz oder weiß, scheint mir im Politbetrieb jedoch die Reduktion auf eine Form der Rhetorik, die nicht Informationsfluss zum Ziel hat, sondern das Herunterbrechen komplexer Inhalte auf den kleinsten gemeinsamen Nenner und nicht selten auf Inhaltsleere, viel relevanter. Dies ist seit Jahrzehnten zu beobachten, wobei die Zuspitzung sich offenbarte, wann immer eine neue Polit-Talk-Show aus dem Boden gestampft und mit den immer selben Leuten besetzt wurde. Politiker, die sich selber zur „Mitte“ erklärten und dies noch heute tun, nutzten das Fernsehen gerne, um sich in Szene zu setzen. Faktentreue oder Inhalte wurden nicht selten populistischem Geplänkel geopfert, komplexe Sachverhalte auf Schlagworte heruntergebrochen, stringente Überlegungen zugunsten einer Emotionalisierung von Thematiken vernachlässigt. Stiegen so die Umfragewerte, feierte man es als Sieg. Der Zweck heilige schließlich die Mittel. Auch das war und ist Populismus. So gewöhnte man die Bürger via Fernsehen und BILD an eine Erwartungshaltung, Politik und Wissen um politische Inhalte sei in fetten Überschriften, Polemik, wenigen Sätzen zu haben. Fast Food.

Die politische Rhetorik gleicht mittlerweile den Werbeeinblendungen. „Wäscht nicht sauber, sondern weiß.“ „Nichts ist unmöglich.“ „Da weiß man, was man hat.“ „Wohnst du noch, oder lebst du schon?“ Eben keine Lügen, sondern zur Unkenntlichkeit reduzierte Nullaussagen, die verkaufen wollen und nicht mehr vermitteln können, was verkauft werden soll.
So versuchen alle Parteien, sich als Marke zu verstehen. Knackige Slogans („Das Wir entscheidet“) sollen „Etabliertes“ unters Volk bringen.
Was für Waschmittel und IKEA funktionieren mag, hat im Politischen für viele Menschen längst an Reiz verloren.
So wie irgendwie alle Waschmittel ihren Job machen und nur wenige so schlecht riechen, dass man sie nie wieder nutzen möchte, so scheinen für viele die Wahlversprechen und das Ergebnis der Wahl gleich.

Politiker, selbst regelmäßig mit umfassender Lektüre über Gesetzesänderungen, mit Stunden dauernden Debatten und Abstimmungen konfrontiert, mit Rede und Gegenrede, Argumenten, rechtlich relevanten Überlegungen, darf man unterstellen, es eigentlich besser zu wissen. Hier griff wohl die hochtrabende Idee, der „einfache Bürger“ könne die Komplexität des politischen Betriebes gar nicht begreifen. Eine Abwertung des Gegenübers, gleich ob sie nun so ehrlich kommuniziert wird, oder nicht. Und es lockte eben auch und vor allem der schnelle Erfolg, ab von einer ernsthaften Debatte. Ein-zwei Schlagworte in die Runde geworfen, eine Schlagzeile am nächsten Tag und man war „im Gespräch“. Es waren Politiker der Mitte, Konservative, Liberale, Linke, Sozialdemokraten, Grüne, die in dieser sprachlichen Reduktion des Politischen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner den Populisten von heute in die Hände spielten und sich so nicht zuletzt auch selber „populistisch“ betätigten,

Schuld sind immer nur die anderen

Auch wenn das „Postfaktische“ (sic) für den Großteil derer, die sich für die „Mitte“ halten, ausschließlich im radikal rechten oder linken Spektrum verortet ist, Sache von Populisten und Hetzern, lohnt ein genauerer Blick: Diese Haltung erweckt den Eindruck eines Versuches, erneut der kritischen Betrachtung des Bestehenden und einer ebenso kritischen Selbstanalyse, zu entgehen. Die Auseinandersetzung auch mit der eigenen Öffentlichkeitsarbeit, mit Wahlversprechen und rhetorischem Blendwerk und damit auch mit den Zusammenhängen von der Gewöhnung einer Mehrheit an die Reduktion des Politischen auf Floskeln ab von Inhalten, die das Erstarken der Populisten, die diese politische Selbstvermarktung übernommen, zugespitzt und radikalisiert haben, erst ermöglichen half. Schuld sind immer die anderen.

Was den Rechten die Ausländer und die Unterwanderung des Abendlandes, sind den Linken der Kapitalismus, Amerika und Israel.
Und der „Mitte“, die längst schon ohne Zutun von außen Maß und Mitte verloren hatte, die „Populisten“, Rechts, Links und neuerdings der Bürger an sich, der in ihren Augen weder in der Vergangenheit klug genug war, um den komplexeren Dialog zu suchen, noch heute klug genug ist, um Politik ab von Schlagzeilen und Glotze zu erfassen.
Doch der Dialog wurde nicht so einseitig abgebrochen oder unmöglich gemacht, ist ein Resultat von Wechselwirkung zwischen Politikern und Bürgern.

Auch die rhetorische Eskalation, die Vergiftung der öffentlichen Debatte, hat nicht erst mit Populisten des rechten und linken Spektrums Einzug gehalten. Unvergessen Münteferings „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“. Schröders gesamtes politisches Wirken war auf der Idee aufgebaut, markige Rhetorik sei alles, was es zum Regieren brauche. „Bild, Bams und Glotze …“.  Bei Maischberger und Co. konnten diverse Politiker über Jahre verbreiten, was sie vom, in der Verfassung verankerten, Sozialstaatsbestreben halten, konnten Armen „schmarotzen“ unterstellen oder wahlweise die Abschaffung von Sozialleistungen fordern, ohne dass dies je zu einem größeren Eklat geführt hätte. Menschenverachtung in der „Mitte“ der Gesellschaft, längst salonfähig gemacht durch die, die sich jetzt angefeindet sehen. Bei der CSU kann man sich ebenfalls seit Jahren auf (sozial)-rassistische Äußerungen quer durch die Belegschaft verlassen. Mal subtil und leise, mal laut und tönend hat so eine politische Klasse ihrer Verachtung gegen bestimmte Menschengruppen Ausdruck verliehen. Es sind in etwa dieselben Menschen, die diese Verachtung nun von rechts erfahren: Arme, Abgehängte, Migranten, Frauen, Behinderte, Kranke. Die meisten von ihnen haben Erfahrung mit Ächtung gemacht, egal ob diese nun von oben, von rechts oder links kam.

Mit zunehmender Prekarisierung der Gesellschaft wächst die Zahl derer, die sich angesprochen fühlen, die plötzlich das Stigma „faul und leistungsunfähig“ entweder erfahren oder aber fürchten müssen. Das Stigma, das die „Mitte“ bereitgestellt hat für erlaubte Verachtung in einer leistungsorientierten Gesellschaft. Und Teile von ihnen müssen nun feststellen, dass auch hier eine Lüge, oder wenigstens Halbwahrheiten im Spiel waren, als man ihnen versprach, die „Renten seien sicher“, „Leistung würde sich lohnen“, obdachlos könne man nur werden, wenn man sich aufgäbe. Es kam denen, die sich leidlich bis gut über Wasser halten konnten, nicht in den Sinn, dass die „Verlierer“ eben nicht „selber Schuld“ waren, wie es die salonfähig gemachte Rhetorik der „Mitte“ ihnen weismachen wollte.

Der Sündenbock Migrant kam zur rechten Zeit für Politiker von CSU bis SPD, um die Eigenverantwortung am verlorenen sozialen Gleichgewicht auszublenden, an Zorn und Armut, Wohnungsknappheit und Sozialneid.
Das Bild von Politik, das man erschaffen hatte, den Glauben daran, in Wahlkampfslogans und Talkshows, in Schlagzeilen und aus dem Kontext gerissenen Aussagen Wahrheit und Lüge ohne Weiteres ausmachen zu können, es stärkte nun Rechtspopulisten.

„Die Geister, die ich rief …“ – Sie haben sich verselbstständigt.

Doch auch den Rechten geht es bei Rufen nach „Wahrheit“ selten bis nie um eben diese. Es geht um „das wird man ja wohl noch mal sagen dürfen“ – Die Erlaubnis, rhetorische Gewalt wieder salonfähig zu machen, Hetze nicht mehr Hetze zu nennen. Auch eine Form der „Lüge“, des Selbstbetruges und der Umdefinierung für den eigenen Vorteil. Selten bemängelt von denen, die „Lügenpresse“ rufen und alles ab der eigenen Meinung zur Lüge erklären.

Wer Wahrheiten will, der muss…

All denen, die unterstellen, Politiker und Medien würden permanent lügen, sei ans Herz gelegt, auch die eigenen kleinen und großen Lügen zu hinterfragen.
Wer Wahrheiten will, der muss bereit sein, sich mit komplexen Sachverhalten auseinanderzusetzen. „Die Wahrheit“ ist selten schwarz oder weiß und ganz sicher nicht in der BILD, RT, PI, fetten Überschriften und YouTube-Videos zu finden. Die Suche danach fängt damit an, sich mit Politik in einer Form auseinanderzusetzen, die bestenfalls ein juristisches Basisverständnis ermöglicht, und das Wort „Verfassungsrecht“ zumindest schon mal vernommen hat. Der muss auch gelten lassen, dass eine „individuelle Wahrheit“ nicht dasselbe ist, wie „Die Wahrheit“. Und nur, wer argumentativ nachvollziehbar daherkommt, den kann man auch ernst nehmen in seiner Kritik am politischen Prozess. Denn zu kritisieren gäbe es genug. Doch wie sagt man so schön? Der Ton macht die Musik. Auf beiden Seiten des Tisches.


Nachtrag:
Ein Blogbeitrag ist, für ein komplexes Thema wie Lüge in Politik und Medien zu kurz, um auf alle Facetten eingehen zu können. Die evolutionären Vorzüge der Lüge, sowie die Frage danach, wann Lügen sinnvoll sein kann, wann die Wahrheit geboten wäre, würden einen Ausflug in Soziologie und Philosophie nötig machen. Nicht annähernd kann ein Beitrag, der im Schnitt 1500 Worte zählt, dies leisten Aber im besten Falle kann er Denkanstöße bieten und zum Nachforschen anregen. Nicht alles, was auf den ersten Blick nach einer Lüge aussieht, muss eine sein. So wie umgekehrt natürlich gilt (gerade für Wähler der Populisten): Nicht jeder, der so aussieht, als würde er besonders ehrlich argumentieren, tut dies letztendlich auch. Der Mensch hat, sei er nun arm oder reich, Politiker oder Handwerker, Mann oder Frau, von Natur aus vor allem den eigenen Vorteil im Auge. Das ist an sich nichts Negatives, solange man diesen eigenen Vorteil nicht anderen zum Nachteil gereichen lässt. „Was du nicht willst, was man dir tu …“ ist noch heute ein weitestgehend zuverlässiger Kompass. Aber dies ist nur meine individuelle Einstellung dazu.

Da der Beitrag zu lang geraten wäre, bei gleichzeitiger Behandlung des Themas „Medien und Lüge“, wird dieses in einem kommenden Beitrag gesondert behandelt, dabei vor allem den Vorwurf „Lügenpresse“ im Auge, den so viele dieser Tage von sich geben.

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