Eine Auswertung aktueller Studien zur Lage von Kindern und Jugendlichen in Afghanistan
Ein Gastbeitrag von Adam Naber
Im Herbst des Jahres 2015 wurde von verschiedenen Politikern, darunter Bundesinnenminister Thomas de Maizière, eine Diskussion über die Einstufung Afghanistans als »sicherer Herkunftsstaat« oder zumindest über die Benennung »sicherer Herkunftsregionen« innerhalb Afghanistans angestoßen.1 Dies ist auf deutliche Kritik von verschiedenen Seiten gestoßen. Neben NGOs und dem afghanischen Präsidenten schätzt auch das deutsche Auswärtige Amt eine solche Entscheidung als »kaum durchführbar« ein.2 Abläufe, die bei Asylsuchenden aus sicheren Herkunftsländern typisch sind, finden jedoch im Kontext afghanischer Flüchtlinge schon Anwendung: Die Ablehnung des Asylantrags eines 24-jährigen Afghanen im Flughafenverfahren als »offensichtlich unbegründet«, der Ausschluss von Deutschkursen für Asylsuchende mit guten Bleibeperspektiven und Abschiebungen nach Afghanistan sind nur drei Beispiele.3 Vor diesem Hintergrund soll im vorliegenden Beitrag aufgezeigt werden, welche Gefahren das alltägliche Leben und eine gezwungene Rückkehr nach Afghanistan mit sich bringen. Die nachfolgenden Ausführungen stützen sich auf eine Recherche zur Situation in Afghanistan, für die der Autor im Januar 2016 vorrangig Berichte internationaler Organisationen sowie wissenschaftliche Studien aus dem Jahr 2015 ausgewertet hat. Daneben führte er Telefoninterviews mit renommierten Länderexpertinnen und -experten.
1. Fehlender Schutz: Allgemeine Unsicherheit und personenbezogene Gefährdungen
Im Jahr 2015 wurden bisher die meisten Verletzungen und Todesfälle auf ziviler Seite dokumentiert. In 30 der 34 Provinzen Afghanistans werden bewaffnete Konflikte ausgetragen und allein innerhalb der ersten sechs Monate von 2015 wurden 1.592 zivile Opfer und 3.329 Verletzte dokumentiert.4
Neben den allgemeinen Sicherheitsbedrohungen, resultierend aus beinahe täglichen Kampfhandlungen, bestehen auch diverse konkrete, individuelle Lebensbedrohungen, welche von der Herkunftsregion, Ethnie, Familienzugehörigkeit und dem Beruf abhängen. Während insbesondere Paschtunen Gefahr laufen, von Taliban als Kämpfer, aber auch als Selbstmordattentäter zwangsrekrutiert zu werden, bilden Angehörige der Hazara eher eine Zielgruppe für Überfälle und Tötungen.5 Die bisherige Beziehung zwischen der Familie und den Taliban spielt zudem eine große Rolle. Falls der Vater den Taliban gedient hat, besteht für den Sohn eine besondere Gefahr der Zwangsrekrutierung. Sollte sich die Familie aber gewehrt haben, sind alle Familienmitglieder in Gefahr. Zudem sind all jene persönlich bedroht, die als Kollaborateure des derzeitigen staatlichen Regimes oder ausländischer Organisationen gelten, sich kritisch über die Taliban oder andere lokale Machthaber geäußert haben oder persönlich in Konflikte mit ihnen geraten sind.6
Dem Staat ist es praktisch unmöglich, den Schutz Einzelner zu gewährleisten, da die afghanischen Sicherheitskräfte selbst nicht in der Lage sind, Herr der allgemeinen Sicherheitssituation zu werden. Eine als geheim eingestufte NATO-Bilanz hielt die afghanische Armee im Jahr 2015 für kaum einsatzbereit: Täglich sterben ca. 22 afghanische Soldaten und im Vergleich zum Vorjahr stellt die Zahl von 8.000 getöteten Armeeangehörigen einen dramatischen Anstieg von 42 % dar.7 Noch gravierender ist die Einschätzung desselben Berichts, dass jedes Jahr ein Drittel der Soldaten die Armee verlassen, u. a. weil viele als Deserteure zu den Taliban überlaufen.
Der fehlende staatliche Schutz zeigt sich auch darin, dass Straftäter nur selten zur Verantwortung gezogen werden und in vielen Fällen die örtliche Polizei als Täter von Vergewaltigungen oder anderen Gewalttaten ausgemacht wurde.8 Es ist dadurch schwer einzuschätzen, wen die lokale Bevölkerung mehr fürchtet: Die lokale Polizei, andere Milizen oder die Taliban. Der landesweite Unmut über den fehlenden Schutz der Bevölkerung äußerte sich im November 2015 mit einer großen Demonstration in Kabul, nachdem eine 7-köpfige Hazara-Familie enthauptet worden war, vermutlich von ISIS Kämpfern.9 Daraus geht hervor, dass nicht nur Minderheiten um die eigene Sicherheit besorgt sind. Die landesweite Umfrage der ASIA Foundation in 2015 hat ergeben, dass diese Sorge 67,4 % der Bevölkerung betrifft (höchste Zahl seit 2006).10
Die Ohnmachtserfahrungen der Bürgerkriegsjahrzehnte sowie die andauernde Macht und Immunität der Kriegsverbrecher haben zu einem weitgehenden Zusammenbruch des staatlichen und sozialen Schutzsystems geführt.11 Kompetente, unbestechliche Beamte besitzen nicht ansatzweise die nötige Autorität, um mittelfristige und tragfähige Lösungen zum Schutz Einzelner zu entwickeln.12 Zudem führt die erlebte langjährige politische Unsicherheit dazu, dass jegliche Widersetzung gegen jemand Mächtigeren bei einem eventuellen Fall des Regimes fatale Konsequenzen mit sich bringen würde. Durch diese Auffassung in breiten Teilen der Bevölkerung wird auch der soziale Schutz ausgehebelt.13 Enge Angehörige sehen sich nicht in der Lage, für die Rechte von Opfern einzutreten, was dazu führt, dass Vergewaltigungen, Entführungen und andere Straftaten eher ertragen als angezeigt werden. Auch inter- und intrafamiliäre Auseinandersetzungen können zu ernsthaften Bedrohungen werden. Das doppelte Versagen von sozialem und staatlichem Schutz wird noch gravierender durch die freie Zirkulation von Waffen aufgrund des langjährigen Krieges.
Dennoch ist oft die Rede von der Möglichkeit eines friedlichen Lebens im Rahmen einer internen Schutzalternative. Der afghanische Minister für Flüchtlinge und Rücksiedlung, Hossain Alemi Balkhi, erklärte demgegenüber noch im Februar 2015 80 % des Landes für unsicher und erkannte nur Panjshir und Bamiyan als sichere Regionen an. Zugleich betonte er, dass die Straßen dorthin absolut unsicher seien.14 Ein Beispiel ist die südlichere Hauptstraße von Kabul nach Bamiyan, die im Volksmund auch »Weg des Todes« genannt wird, da sie 40 km quer durch Taliban-kontrollierte Gegenden führt.15 Aufgrund der vielen Checkpoints und Angriffe wurden schon viele Zivilisten getötet (besonders Hazara, aber auch Mitarbeiter von (I)NGOs, Studenten oder Staatsangestellte) und Fahrer sehen sich gezwungen, ihre Fahrzeuge zu verkaufen, da sie nicht tagtäglich ihr Leben riskieren wollen.16
2. Konkrete Bedrohungen für Kinder und Jugendliche
Knapp 25 % der zivilen Todesopfer sind Kinder; im Vergleich zum Vorjahr ein Anstieg von 13 % (UNAMA Report).17 Ein Grund für die hohe Anzahl ziviler Opfer sind u. a. die 1.500 Kampfhandlungen und Vorfälle in Schulen alleine zwischen 2009 und 2013.18
Die allgemeine Unsicherheit ist nicht der alleinige Grund zur Flucht, stellt jedoch eine Konstante im Leben vieler Afghanen dar. Der bewaffnete Konflikt verschärft die ökonomische Situation und führt zu einer absoluten Perspektivlosigkeit der jungen Bevölkerung.19 In der afghanischen Gesellschaft tragen jedoch auch gerade Jugendliche eine große Verantwortung für die Sicherung der Familienexistenz, was umso mehr gilt, wenn der Familienvater im Krieg gefallen, versehrt oder einer der rund 12,6 % erwachsenen drogenabhängigen Afghanen (insbesondere Heroin) ist.20
Selbst wenn Jugendliche eine Schule absolvieren konnten, gibt es kaum Arbeit in den meisten Gebieten, u. a. weil jedes Jahr 400.000 junge Afghanen zum bereits weitgehend gesättigten Arbeitsmarkt hinzukommen.21
Dass 25 % aller Afghanen, die sich gezwungen sehen das Land zu verlassen, zwischen 15 und 24 Jahren alt sind, liegt nicht nur am afghanischen Durchschnittsalter von 17 Jahren.22 Vor allem liegt es daran, dass in der Regel die immensen Kosten der Ausreise höchstens für ein Familienmitglied aufgebracht werden können.23 Die Wahl fällt dabei häufig auf einen Jugendlichen, da man den Familien der Verheirateten nicht den minimalen Schutz vor Übergriffen entziehen möchte, den in Afghanistan nur ein Mann bieten kann. Außerdem wird älteren Personen eher zugetraut, als Tagelöhner zumindest eine temporäre Minimalgrundsicherung der Zurückgebliebenen zu gewährleisten, während man den Jugendlichen bessere Integrationschancen in Europa zutraut.24
Zur ökonomischen Lage und zur Notwendigkeit, das Überleben der Familie durch Arbeit im Ausland zu sichern, treten gerade auch bei Kindern und Jugendlichen vielfältige spezifische Bedrohungen hinzu, die für die Entscheidung zur Flucht ausschlaggebend sein können: Im ganzen Land, aber besonders im Norden, sind Jungen von (sexueller) Zwangsarbeit oder Rekrutierung militärischer Gruppen gefährdet.25 Die unter 13-Jährigen sind am ehesten von sexueller Ausbeutung bedroht.26 Die unterschiedlichen Formen der Praxis des »Bacha Bazi« variieren von präpubertären Tanzjungen in Frauenverkleidung auf Hochzeiten bis zur Variante des vielfachen Missbrauchs von Jungen als Sexsklaven.27 Durch das junge Alter werden sie noch nicht als Männer angesehen und somit geraten die Täter nicht in das schwerwiegende Tabu der Homosexualität. 14 bis 18-jährige Jungen hingegen werden vermehrt als Zwangsarbeiter oder Kindersoldaten gehandelt.28 Beide Altersgruppen geraten zunehmend in die Gefahr, durch die Zwischenmänner, die von den Familien bezahlt werden, um ihre Kinder ins Ausland zu bringen, zur Zwangsarbeit genötigt zu werden.29 Die Hauptopfergruppe im afghanischen Menschenhandel bilden unbegleitete, 15-jährige Kinder aus instabilen Familienverhältnissen. 30
Für Mädchen besteht das Risiko, zwangsweise verheiratet zu werden, da die Familie des Mannes traditionell einen Brautpreis an die Familie des Mädchens zahlt.31 Insbesondere die rechtlich verbotene, aber finanziell lukrative Verheiratung sehr junger Mädchen bedeutet eine immense physische und psychische Bedrohung. Diese Bedrohung wächst, je größer das Machtgefälle zwischen der Familie des Mannes und der der Frau ist. Denn je größer dieses Machtgefälle, desto weniger kann die Familie der Frau es im Fall von Misshandlungen wagen, Rückendeckung oder Zuflucht zu gewähren, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. Der Wunsch der Frau nach Scheidung würde wiederum bedeuten, dass zumindest der Brautpreis zurückbezahlt werden müsste.32 In den letzten 15 Monaten sind zudem vermehrt Fälle bekannt geworden, in denen Bedrohungen der Töchter zur gemeinsamen Flucht der Familie geführt haben.33 Dies trifft vor allem für Familien aus der Mittelschicht zu, die eine Entführung befürchten.
3. Ängste und Sorgen vor der Rückkehr
Abgeschobene Personen sehen sich in Afghanistan vielen Problemen gegenüber, insbesondere die Jüngeren, die ursprünglich auch deshalb das Land verlassen hatten, um das Überleben der Familie zu sichern. Neben ganz konkreten Gefahren, die daraus entstehen können, dass noch Schulden für die ursprüngliche Ausreise bestehen, ist es sehr schwierig, die eigene Existenz sicherzustellen, u. a. weil ein enormes Stigma als Versager auf den Abgeschobenen lastet.
»Die Situation des gezwungenen Rückkehrers ist um einiges schlimmer als vor dem Verlassen der Heimat« (Hassan Ali Dijan)34
Die Migrationsentscheidung afghanischer Jugendlicher ist in vielen Fällen eine kollektiv getroffene Entscheidung und das Vorhaben wird oft von vielen Schultern getragen. 35 Gerade Jugendliche haben nicht das eigene Kapital und sind auf die Ressourcen ihrer Familien angewiesen. Die Rückkehr wird von den involvierten Akteuren als Moment des Schuldenausgleichs verstanden. Sollte die Rückzahlung der Schulden allerdings nicht möglich sein, befindet sich die gesamte Familie in Gefahr, da eine Rückkehr aus Europa sich schnell herumspricht.36 Dass viele Rückkehrer Schulden nicht bezahlen können, weil sie kaum die Möglichkeit hatten, als Asylsuchende im Ausland Arbeit zu finden, wird von den Geldleihern entweder als Ausrede angesehen oder es ist für sie schlicht irrelevant. Aggressives Geldeintreiben kann in Erpressungen, Entführungen, Attacken oder sogar Morden enden.37 Im Fall von Entführungen muss wichtiges Familienkapital, wie Teile des Landes, verkauft werden, um das Lösegeld bezahlen zu können. Seit 2008 floriert das Geschäft der Erpressungen in Afghanistan aufgrund der bestehenden Konfliktwirtschaft, hoher Arbeitslosigkeit und den sinkenden Beiträgen der Entwicklungshilfe.38 Dazu kommt auch das Risiko durch die Taliban, da jegliche Person, die mit dem Westen kooperiert hat oder sich dort lange aufgehalten hat, ein potentielles Opfer ist.
Berichte zur Situation jugendlicher Rückkehrer heben hervor, dass viele Jugendliche aus Angst nicht mehr an ihren Heimatort und zu ihren Familien weiterreisen, da sie nicht erklären können, dass ihre Ausreise, die der Existenzsicherung dienen sollte, die Familie nur noch ärmer gemacht hat.39 Daher ziehen viele junge Abgeschobene es gar nicht erst in Erwägung, nach der Rückkehr Kontakt zu ihren Familien aufzunehmen. Ein anderer Grund ist das heiratspflichtige Alter, in dem die meisten jungen Männer zurückkehren würden und dass zusätzliche finanzielle Verpflichtungen entstehen lässt (Hochzeitsfest, Gründung einer Familie etc.).40 Zu den finanziellen Problemen kommt hinzu, dass viele der jungen Männer bereits einige Jahre in Europa ein »westliches« Leben geführt haben, das den lokalen Traditionen durchaus widerspricht. Auch aus diesem Grund wird daher teilweise darauf verzichtet, die traditionellen Strukturen der Familie und des Heimatortes aufzusuchen.41
3.a. Wenn die Heimat keine Heimat mehr ist
Bevor viele der jugendlichen Afghanen die Flucht nach Europa antreten, verbringen die meisten von ihnen viele Jahre im Iran. Während dieser Zeit arbeiten sie häufig unter schwierigsten Bedingungen und werden auf degradierendste Art und Weise behandelt (willkürliche Festnahmen, Prügel, kein polizeilicher Schutz bei Übergriffen).42 Ein anderer Teil der jugendlichen Geflüchteten ist nicht einmal in Afghanistan aufgewachsen oder sogar geboren. Gut die Hälfte der 2,45 Millionen afghanischen Flüchtlinge im Iran ist unter 14 Jahre alt.43 Außerdem haben 30 Jahre Krieg 75 % der afghanischen Bevölkerung zumindest einmal vertrieben und komplexe, generationenübergreifende Migrationschroniken entstehen lassen.44 Eine Abschiebung nach Afghanistan ist in vielen Fällen daher keine »Rückführung in die Heimat« sondern in die Fremde, in eine Situation absoluter Hilflosigkeit.
3.b. Eine Existenz ohne Beziehungen und Netzwerke
Die Ankunft in Afghanistan stellt die Rückkehrer vor eine Wahl: Soll die Familie aufgesucht werden oder schlägt man sich auf eigene Faust durch? Diejenigen, die zu ihren Familien finden, sind sich den Risiken und Gefahren bewusst, sehen aber auch ein, dass lokale Netzwerke essentiell zum Überleben sind. In der Regel bleiben sie aber nur eine kurze Zeit, da eine Rückkehr zur Familie keine Erleichterung, sondern vielmehr eine Last für den Rückkehrer und die Familie darstellt. Das Stigma des durch den Westen verweichlichten Versagers wiegt schwer und fällt nicht nur auf den Einzelnen, sondern befleckt die gesamte Familie.45 Gekennzeichnet durch den Misserfolg, die Lage der Familie zu verbessern, sinkt der Status enorm, was zu einer absoluten Verschlechterung der Arbeits- und Heiratschancen führt.46 Aus den oben genannten Gründen entscheiden sich einige, die Familie gar nicht erst über die Ankunft in Afghanistan zu informieren. Sie wählen zunächst das Leben in Kabul, ohne jegliche Kontakte und Beziehungen. Viele Anthropologen beschreiben soziale Beziehungen in Afghanistan als absolut essentiell und betonen, dass ein Leben in einer unbekannten Gegend, ohne Netzwerke, fast unmöglich ist und keine Perspektive für ein würdevolles Leben bietet.47 Da Rückkehrer das Land aber häufig im jungen Alter verlassen haben, verfügen sie kaum über Kontakte in anderen Städten außerhalb des Heimatorts und sind komplett auf sich gestellt.
3.c. Kabul: Kein Platz für fremde Jugendliche
Innerhalb der letzten zehn Jahre ist die Hauptstadt von 700.000 auf knapp 7 Millionen Einwohner gewachsen.48 Selbstverständlich konnte der Ausbau der grundlegenden Infrastrukturen (Bildung, Gesundheit, sanitäre Anlagen) nicht Schritt halten, um diesen exponentiellen Bevölkerungsanstieg zu absorbieren. Selbst in Kabul, dem Ziel vieler der 947.872 Binnenvertriebenen aus dem ländlichen Raum, sind die Bezirke säuberlich nach Ethnien unterteilt.49 Viele wagen nicht, eine Wohnung (falls überhaupt eine gefunden wird) in einem Stadtteil einer anderen Ethnie zu beziehen bzw. sich dort auch nur aufzuhalten. 50 Wenn solch eine strenge ethnische Trennung bereits im »bunten« Kabul der Fall ist, kann man sich nur schwervorstellen, wie die Umsiedlung in anderen Gegenden Afghanistans gelingen soll. Jugendliche und junge Männer (Altersgruppe 15 bis 24) suchen im Durchschnitt 9,4 Monate nach Arbeit, 95 % der ausgeübten Jobs laufen ohne Vertrag und sind dadurch für Ausbeutung prädestiniert. 51 87 % der Jugendlichen, die Arbeit gefunden haben, gelang dies nur durch Beziehungen der Familie oder Freunde.52 Ein junger Afghane formulierte die Problematik vieler Rückkehrer sehr deutlich:
»In Afghanistan geht es nicht darum, was du kannst,
sondern wen du kennst.«53
Doch es sind nicht nur konkrete, leibliche Bedrohungen, die das Leben für Jugendliche in Kabul so schwer machen. 70 % der Jugendlichen haben Erfahrungen hinter sich, die zu schwerwiegenden psychischen Problemen führen können. 54 Ein Drittel der Befragten musste bereits den Verlust eines engen Familienmitglieds, Bombenangriffe oder den Anblick Toter und Verwundeter in frühen Jahren verarbeiten. 55 Mehr als 75 % der Jugendlichen würde gerne psychologische Behandlung bekommen, aber in einem Land, in dem Fragen nach der psychischen Gesundheit ein Tabu sind und der Zugang zu Behandlungen nicht gegeben ist,
sind diese Jugendlichen absolut sich selbst überlassen.56
4. Schlussfolgerung
Aufgrund des weitgehend fehlenden staatlichen und sozialen Schutzes ist die afghanische Bevölkerung in fast allen Teilen Afghanistans bedroht. Auch wenn in diesem Artikel das Hauptaugenmerk auf die Jugendlichen gerichtet ist, gilt dies auch für den Rest der Zivilbevölkerung. Neben den ursprünglichen Fluchtgründen stellt die Abschiebung oftmals eine noch konkretere Gefahr für Leib und Seele dar. Wegen des Statusverlusts und den hohen Geldschulden können oftmals Beziehungen und Netzwerke nicht aktiviert werden, die so dringend nötig sind für das tägliche Überleben. Stattdessen stellen gezwungene Rückkehrer eine Gruppe dar, die gesellschaftlich diskriminiert wird, von der Familie isoliert ist und in ein Leben absoluter Armut oder zur erneuten Ausreise gezwungen wird.
Anmerkung:
Der Artikel „Afghanistan: Gründe der Flucht und Sorgen jugendlicher Rückkehrer“ íst erstmals im Asylmagazin 1–2/2016, S. 4–9 erschienen. Zu erwähnen ist außerdem, dass der Artikel für den Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge e.V. geschrieben wurde. Besonderer Dank, so Adam Naber, gilt der Afghanistanexpertin Friederike Stahlmann sowie Nassim Majidi, Dr. Liza Schuster und Hassan Ali Dijan für ihre aktive Unterstützung bei der Entstehung dieses Artikels. Die Peira-Redaktion bedankt sich bei Adam Naber und dem Asylmagazin für die Zustimmung zur Zweitverwendung des Artikels.
1 Vgl. etwa den Überblick über die Debatte auf der Homepage von Thomas Ruttig, 2.11.2015, Afghanistan will doch Abschiebungen aus Deutschland akzeptieren, http://thruttig.wordpress.com/2015/11/02.
2 Homepage des afghanischem Präsidenten Ghani, 20.6.15, http://president.gov.af/en/news/48479. Frankfurter Allgemeine, Auswärtiges Amt hält Afghanistan nicht für sicher, 13.11.15,
http://www.faz.net/aktuell/politik/fluechtlingskrise/auswaertiges-amt-haelt-afghanistan-nicht-fuer-sicher-13909934.html.
3 Frankfurter Rundschau Online, Keine Chance auf Asyl, 3.12.15,http://www.fr-online.de/zuwanderung-in-rhein-main/zuwanderungund-flucht-keine-chance-auf-asyl,24933504,32694916.html.
4 UNHCR, Global Appeal 2015 Update – Afghanistan, 2015, S. 2.UNAMA, Afghanistan Midyear Report 2015 – Protection of Civilians in armed Conflict, 2015, S. 1.
5 Liza Schuster, Updated Report on the current situation in Afghanistan,Dezember 2015, S.15. UNHCR, Eligibility Guidelines for assessing the international protection needs of asylum-seekers from Afghanistan, S. 67.
6 Telefongespräch mit Liza Schuster, 15. Januar 2016.
7 Der Spiegel, Geheimer Bericht: Nato hält afghanische Armee für kaum einsatzbereit, 6.1.16, http://www.spiegel.de/politik/ausland/afghanistan-nato-bericht-stellt-einsatzbereitschaft-der-armee-infrage-a-1071149.html.
8 Human Rights Watch, »Today We Shall All Die«: Afghanistan’s Strongmen and the Legacy of Impunity, März 2013, Kapitel 2 Profiles of Impunity.
9 Al Jazeera, Afghans protest beheadings of ethnic Hazara by ISIL, 11.11.2015, http://www.aljazeera.com/news/2015/11/afghans-protest-killings-hazara-isil-151110135854342.html. Laut einem UN- Bericht ist der sogenannte islamische Staat inzwischen in 25 der 34 Regionen aktiv. Straitstimes, ISIS gaining ground in Afghanistan: UN report, 26.9.15, http://www.straitstimes.com/asia/south-asia/isis-gaining-ground-in-afghanistan-un-report.
10 Asia Foundation (2015), Afghanistan in 2015: A Survey of the Afghan People, http://asiafoundation.org/publications/pdf/1558, S. 33.
11 Human Rights Watch, »Today We Shall All Die«: Afghanistan’s Strongmen and the Legacy of Impunity, März 2013, S. 1 ff. Global Research, Afghanistan Enacts Law That Gives War Criminals Blanket Immunity, 16 März 2010, http://www.globalresearch.ca/afghanistanenacts-law-that-gives-war-criminals-blanket-immunity/18216.
12 Friederike Stahlmann, The Power of Experience: Civil War Effects on Seeking Justice through Disputing, April 2015, S.8, http://hborl.org.af/?page_id=399.
13 Telefongespräch mit Friederike Stahlmann.
14 Liza Schuster, Updated Report on the current situation in Afghanistan, Dezember 2015, S. 3.
15 Dawn News, 5.12.2015, Hazaras travel ›Death Road‹ through Afghanistan,
http://www.dawn.com/news/1224373/hazaras-travel-deathroad-through-afghanistan. Email-Verkehr mit Friederike Stahlmann.
16 Dawn News, 5.12.2015, Hazaras travel ›Death Road‹ through Afghanistan, http://www.dawn.com/news/1224373/hazaras-travel-deathroad-through-afghanistan.
17 UNAMA, Afghanistan Midyear Report 2015 – Protection of Civilians in armed Conflict, 2015, S. 5.
18 Hierunter fallen direkte Übergriffe, gezielte Selbstmordattentate, Platzierung von Sprengmitteln, erzwungene Schließungen sowie Bedrohungen und Einschüchterungen von Schülern und Personal. UNICEF, Children and Women in Afghanistan: A Situation Analysis, November 2014, S. 29,
19 Echavez, Chona et al., Why do children undertake the unaccompanied journey? Afghanistan Research and Evaluation Unit & United Nations High Commissioner for Refugees Issues Paper, Dezember 2014, S. 12.
20 UNODC Afghanistan, Pressemitteilung zum demnächst erscheinenden »Afghanistan Drug Report 2015«, 9.12.15, https://www.unodc. org/afghanistan/en/frontpage/2015/afghanistan-drug-report-2015_-press-release.html.
21 UNICEF, Child Notice Afghanistan, 2015, S. 89.
22 Ebd., S. 19. Majidi, Nassim, Return, Reintegration and Rebordering in Afghanistan, Arbeitsfassung ihrer Doktorarbeit, die demnächst veröffentlicht wird, S. 167.
23 Echavez, Chona et al., Why do children undertake the unaccompanied journey? Afghanistan Research and Evaluation Unit & United Nations High Commissioner for Refugees Issues Paper, Dezember 2014, S. 22 ff.
24 Telefongespräch mit Friederike Stahlmann.
25 Thorson, Jane E., Forgotten No More: Male Child Trafficking In Afghanistan, Oktober 2013, S. 7–8.
26 Ebd., S. 67.
27 AIHRC, Causes and consequences of Bacha Bazi in Afghanistan, August 2014, S. 23.
28 Thorson, Jane E., Forgotten No More: Male Child Trafficking In Afghanistan, Oktober 2013, S. 66.
29 US Department of State, Trafficking in Persons report, 2015, S. 64.
30 Thorson, Jane E., Forgotten No More: Male Child Trafficking In Afghanistan, Oktober 2013, S. 29.
31 UNICEF, Child Notice Afghanistan, 2015, S. 75.
32 Telefongespräch mit Friederike Stahlmann.
33 Telefongespräch mit Liza Schuster.
34 Telefongespräch mit Hassan Ali Dijan, Autor des Buches »Afghanistan. München. Ich. Meine Flucht in ein besseres Leben«, Herder-Verlag 2015.
35 Echavez, Chona et al., Why do children undertake the unaccompanied journey? Afghanistan Research and Evaluation Unit & United
Nations High Commissioner for Refugees Issues Paper, Dezember
2014, S. 16 ff.
36 Ebd., S. 29.
37 Ebd., S. 29. Schuster, Liza und Nassim Majidi, Deportation Stigma and Re-migration, Journal of Ethnic and Migration Studies Volume
41, Issue 4, 2015, S.644. Gladwell, Catherine. No longer a child: from the UK to Afghanistan, Forced Migration Review 44, September 2013, http://www.fmreview.org/detention/gladwell. UNICEF, Child Notice Afghanistan, 2015, S. 89.
38 Majidi, Nassim, Return, Reintegration and Rebordering in Afghanistan, Arbeitsfassung ihrer Doktorarbeit, die demnächst veröffentlicht wird, S. 152.
39 Gladwell, Catherine, No longer a child: from the UK to Afghanistan, Forced Migration Review 44, September 2013, http://www.fmreview.org/detention/gladwell.
40 Majidi, Nassim, Return, Reintegration and Rebordering in Afghanistan, S. 146.
41 Schuster, Liza und Nassim Majidi, Deportation Stigma and Re-migration, Journal of Ethnic and Migration Studies Volume 41, Issue 4,
2015, S. 643
42 Majidi, Nassim, Return, Reintegration and Rebordering in Afghanistan, II, IV, C, Afghans in Iran: from refugees to irregular migrant workers – clandestine living and remittances, S. 125 ff.
43 Majidi, Nassim, Return, Reintegration and Rebordering in Afghanistan, S. 162.
44 Ebd., S. 182.
45 Schuster, Liza und Nassim Majidi, Deportation Stigma and Re-migration, Journal of Ethnic and Migration Studies Volume 41, Issue 4, 2015, S. 641. 46 Ebd., S. 642.
47 Monsutti, Alessandro, Transnational Networks: Recognising a Regional Reality, Afghanistan Research and Evaluation Unit, April 2005. Kristian Harpvin, Social Networks and Migration in Wartime Afghanistan, 2009, Palgrave Macmillan UK. Saito, Mamiko and Pamela Hunte, To return or to remain: the dilemma of second-generation Afghans in Pakistan, Afghanistan Research and Evaluation Unit, 2007.
48 Liza Schuster, Updated Report on the current situation in Afghanistan, Dezember 2015, S. 31.
49 UNICEF, Child Notice Afghanistan, 2015, S.90. UNHCR, Website Afghanistan Country Operation Profile, Zahlen von Juni 2015, http:// www.unhcr.org/pages/49e486eb6.html. 50 Telefongespräch mit Liza Schuster und Hassan Ali Dijan.
51 Im Rahmen einer repräsentativen Studie von 2013 mit 2006 Jugendlichen in Kabul verfasste Nassim Majidi ihre Ergebnisse in: Majidi, Nassim, Return, Reintegration and Rebordering in Afghanistan, II,VI Urban Displaced Youth: A Story of economic and social Isolation, S. 162 ff.
52 Ebd., S. 162 ff.
53 Ebd., S. 177.
54 Ebd., S. 186.
55 Ebd., S. 184.
56 Ebd., S. 183.