Ein Gastbeitrag von Dr. Gernot Reipen
„Im Zuge der Digitalen Revolution aller Lebensbereiche sind trotz aller Lippenbekenntnisse die Würde und die Freiheit des Menschen in bisher ungeahnter Art und Weise gefährdet“, mit diesem Satz beginnt die Präambel des Grundsatzprogramms der Piratenpartei Deutschland [1]. Eine junge Partei, die sich selbst als Partei der Informationsgesellschaft betrachtet und sich besonders für Bürger- und Freiheitsrechte sowie für Informationsfreiheit und Datenschutz einsetzt. Aus diesem Grund werden die Bedeutung und die Kompetenz der Piratenpartei sehr häufig in Verbindung mit Whistleblower-Schutz, liberalem Urheberrecht, gegen allumfassende Überwachung und verdachtsunabhängiger Bespitzelung in Verbindung gebracht.
Wer sich aber das Grundsatzprogramm dieser Partei durchliest, wird sehr rasch feststellen, dass die Piratenpartei politisch gesehen wesentlich breiter aufgestellt ist, als es zunächst den Anschein hat. So beginnt das Grundsatzprogramm mit der Forderung nach mehr Demokratie und mehr politischer Teilhabe. Tatsächlich bestand ein wesentlicher Wahlerfolg in 2011 und 2012 gerade in dieser politischen Ausrichtung. Die Forderung nach mehr Transparenz und das Wort „Mitmachpartei“ sind unverrückbar mit dieser Partei verbunden und kennzeichneten geradezu die politische Neuausrichtung jener Zeit, die den Einzug dieser Partei in vier Landesparlamente bescherte.
Es waren junge Menschen mit unbekannten Gesichtern, die eine neue Politik in Deutschland umsetzen wollten. Und es waren ihre Ideen und Visionen nach einer neuen Form des Zusammenlebens im Zeitalter der Digitalisierung, was diese junge, unverbrauchte Partei für viele Wähler so attraktiv erscheinen ließ. In diesem Kontext ist es zu verstehen, dass schon 2010 auf dem 7. Bundesparteitag der Piratenpartei in Chemnitz das Recht auf sichere Existenz und gesellschaftliche Teilhabe ins Grundsatzprogramm aufgenommen wurde. Die Bedeutung eines Bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) für die politische Zielsetzung der Piratenpartei wird auch in diesem Abschnitt des Grundsatzprogramms deutlich. Dort heißt es:
„Wir Piraten sind der Überzeugung, dass die überwältigende Mehrheit der Menschen eine sichere Existenz als Grundlage für die Entfaltung ihrer wirtschaftlichen und sozialen Potenziale nutzen wird. Sichere Existenz schafft einen Freiraum für selbstbestimmte Bildung und Forschung sowie wirtschaftliche Innovation. Sie erleichtert und ermöglicht ehrenamtliches Engagement, unabhängigen Journalismus, politische Aktivitäten oder die Schaffung von Kunst und freier Software. Davon profitiert die ganze Gesellschaft [2].
Der Begriff „Bedingungsloses Grundeinkommen“ ist, mit Ausnahme des Abschnittes „Rentenpolitik“, im Grundsatzprogramm bislang noch nicht verankert. Die Forderung nach einer sicheren Existenz und gesellschaftlichen Teilhabe beinhaltet aber bereits die individuelle und bedingungslose Garantie. Mit dem Wahlprogramm 2013 wurden in den Leitlinien zum Bedingungslosen Grundeinkommen die vier Kriterien genannt, die mittlerweile den Begriff „Bedingungsloses Grundeinkommen“ klar definieren: ohne Bedingungen, existenz- und teilhabesichernd, individuell garantiert und ohne Bedürftigkeitsprüfung [3].
Obwohl bis 2013 nicht explizit genannt, ist die Forderung nach einem Bedingungslosen Grundeinkommen in der öffentlichen Wahrnehmung seit 2010 sehr stark mit der Piratenpartei verbunden, und prominente BGE-Aktivist(inn)en waren oder sind Mitglieder dieser Partei. Gerade in jüngster Zeit gewinnt das BGE innerhalb der Partei wieder an Bedeutung.So wurde vor wenigen Wochen mit deutlicher Mehrheit das Thema „Grundeinkommen“ für die zweite Themenwoche im ersten Quartal 2016 vorgeschlagen. Einige Wochen zuvor stimmten PIRATEN aus Rheinland-Pfalz für das Positionspapier „Das BGE als zukunftsweisende Umsetzung des Sozialstaatsprinzips“ und sprachen sich mehrheitlich für einen wissenschaftlich begleiteten Modellversuch zur Einführung eines BGE als Wahlprogramm für die Landtagswahl 2016 aus. Im Saarland wurde der politische Geschäftsführer der Piratenpartei, Jörg Arweiler, in einem Fernsehinterview des Saarländischen Rundfunk zum Thema BGE befragt. Auch dort wird innerhalb des Landesverbandes über Modellversuche zum BGE diskutiert.
Während etablierte Parteien sich bislang nur schwerfällig mit dem Thema „Digitalisierung“ und die damit verbundenen kontinuierlichen Umwandlungsprozesse und Herausforderungen innerhalb der modernen Industriegesellschaft beschäftigen, besinnen sich gerade die PIRATEN auf ihre politische Stärke, einer modernen, zukunftsorientierten und weltoffenen Partei.
Die Industrie von morgen (auch vierte industrielle Revolution genannt) wird zu einer immer stärkeren und allumfassenden Vernetzung von Maschinen, Herstellungsabläufen und Produktionsprozessen führen. Wissenschaftliche Studien belegen, dass viele Berufe und Berufszweige in naher Zukunft überflüssig werden. Zwar werden auch neue Berufszweige entstehen, doch die Frage bleibt, ob für alle Erwerbstätigen ein ausreichendes Arbeitsmarktangebot gewährleistet werden kann.
In Wissenschaft und Wirtschaft wird diese Entwicklung längst erkannt. So führten die beiden Amerikaner Frey und Osborne bereits 2013 wissenschaftliche Studien über die Wahrscheinlichkeit der Robotisierung des amerikanischen Arbeitsmarktes durch. Die IngDiba-Bank hat diese Studien 2015 auf den deutschen Arbeitsmarkt projiziert und kommt zu dem Ergebnis, dass von den 30,9 Millionen in dieser Studie berücksichtigten sozialversicherungspflichtig und geringfügig Beschäftigten rund 18,3 Millionen Arbeitsplätze, bzw. 59%, in ihrer jetzigen Form von der fortschreitenden Technologisierung bedroht sind [4].
In der ZEIT sprach sich der Telekom-Chef Höttges wegen der Gefahr des Arbeitsplatzverlustes durch die Digitalisierung für ein Grundeinkommen aus, das durch Gewinne der Internetkonzerne finanziert werden sollte [5].
Die digitale Spaltung der Gesellschaft in Gewinner und Verlierer war auch Thema beim Weltwirtschaftsforum im Schweizer Alpenort Davos. So befürchtet Joe Schoendorf, Chef der Firma Accel Partners: „Die digitale Revolution wird nicht bloß Erfolgsgeschichten produzieren, sondern Millionen Menschen den Job kosten. Roboter, mit künstlicher Intelligenz ausgestattet, würden künftig einen großen Teil der Arbeit erledigen und die Gesellschaft in Gewinner und Verlierer spalten, soziale Unruhen inklusive und fordert deshalb: ‚Wir müssen dafür eine Lösung finden und die Einkommen anders verteilen‘.“[6]
„Das BGE und die Industrie von morgen“, so lautet das Motto der BGE-Themenwoche der Piratenpartei, die vom 27.2.2016 bis 6.3.2016 im gesamten Bundesgebiet stattfinden wird. Mit Veranstaltungen, Infoständen, Flyern, Broschüren und Plakaten wollen die PIRATEN auf dieses wichtige Thema aufmerksam machen. Eine Partei, die sich seit 2010 wie keine andere Partei klar für die Einführung eines BGE unter Beteiligung der Bevölkerung ausspricht, basisdemokratisch und transparent.
Quellenangabe:
[1,2] Grundsatzprogramm der Piratenpartei Deutschland, 2. Auflage 2013, Seite 9 und 35
[3] Wahlprogramm 2013 der Piratenpartei Deutschland, 1. Auflage 2013, Seite 75
[5] http://www.zeit.de/wirtschaft/2015-12/digitale-revolution-telekom-timotheus-hoettges-interview
bin leicht verwirrt ich weiss das das BGE immer noch im Programm der Piraten steht, das der aktuelle Buvo aber oft betont hat, das er dagegen ist.
Und nun strategisch oder wie auch immer sich voll auf Datenschutz nach aussen hin ausrichten will/wollte.
Die Partei ist daher auch tief gespalten, auch wenn es viielleicht nur 30% sind oder waren (nach austrittswellen kann man das nimmer so genau sagen) sind es sehr laute 30% die die Partei fast im Alleingang gegen die Wand gefahren haben.
Sicher es war nicht nur das BGE als Streitthema sondern auch andere, aber das tut jetzt hier nicht so viel zur Debatte, wenn der Buvo ein Erleuchtungserlebnis gehabt haben sollte, oder dieser geht und die Piraten das BGE als eines der wichtigsten wenn nicht das wichtigste Thema setzen wuerden, koennte ich mir vorstellen diese zu waehlen.
Alternativ sollte die Partei endlich skalierbare demokratische Methoden zur Entscheidungsfindung haben, wie dezentrale Parteitage oder onlineparteiitage, dann waere das Fuehrungspersonal vielleicht wirklich so Machtlos das es egal ist wer sich da in die aemter rein mobbt/boxt.
So wie die Partei mal seit der letzten Bundestagswahl aufgestellt ist, ist sie fuer mich ohne aenderungen nicht waehlbar, auch wenn ich mit grossen Teilen des Wahlprogramms uebereinstimme.
Danke für diesen Artikel. Gott sei Dank bestimmen ja auch nicht Bundesvorstände die politische Programmatik; dafür gibt es ja Parteitage. Unabhängig hiervon ist das BGE ein wesentlicher Baustein zur Umgestaltung unserer Gesellschaft. Dennoch sollte der Sinneswandel der Wirtschaft / Finanzindustrie kritisch beäugt werden. Denn sie alle werden kaum den humanistischen Ansatz oder den Artikel 2 GG für sich entdeckt haben, der uns eine neue Handlungsfreiheit bescheren soll. Verfestigte Armut bedeutet auch Konsumentenverlust und so sind neue Modelle gefordert, um die alten Gewinnstrukturen weitestgehend am Leben zu erhalten. Doch das ist kein Grund das BGE abzulehnen. Das BGE ist auch eine permanente Umverteilung der Wertschöpfung und der Gewinne an alle.
Was heißt denn, „Einkommen anders zu verteilen“? Hat man vielleicht an die Besteuerung der 500 reichsten Deutschen gedacht, die ein Vermögen von gut 611 Milliarden Euro auf sich vereinen? Mehr, als unser Bundeshaushalt im ganzen umfasst. Vielleicht an eine Steuer auf alle Finanztransaktionen und sekündlich direkt ans Finanzamt zu überweisende Umsatzsteuer? Oder möglicherweise an eine Automatisierungssteuer, bei der die Produktivitätssteigerung in die Kassen der Solidargemeinschaft fließt? Bis jetzt lässt sich die Wirtschaft viel zuviel vom Steuerzahler subventionieren. Denn auch der aus dem Steueraufkommen aufgestockte 450-Euro-Jobber ist eine indirekte Subventionszahlung an „den Markt“.
Was heißt Teilhabe in der Gesellschaft? Teilhabe des Menschen auch an der Wertschöpfung insgesamt? Wie beteilige ich Menschen am Produktivvermögen und der Wertschöpfung? Doch nur, wenn bisherige Eigentumsstrukturen auf den Kopf gestellt und beispielsweise bisherige Aktienpakete in für jeden Bürger zugängliche und direkte Genossenschaftsanteile umgewandelt werden. Diese Steilvorlage passt für alle Lebensgrundlagen, die dem Bürger über die zunehmende Privatisierungsschiene immer mehr entgleiten und die Schere zwischen Vermögenden und Unvermögenden immer größer werden lässt. Zu den Lebensgrundlagen gehören u. A. Grund und Boden, Wasser, Energie, Wohnraum. Sie müssen zu Commons (Allmende, Gemeingüter) erklärt werden. Vielleicht einmal auch ein interessanter Gedankenansatz für Piraten, um eine völlig andere Gesellschaftsordnung neu zu denken und zu diskutieren.
Zur schlichten Erinnerung. Es gibt mehr BGE Modelle, als der Hund Flöhe hat. Jede Partei hat dazu einen Arbeitskreis (alte Ausarbeitung s. Prof Straubhaar). Die Alternativen „jeder kriegt Bürgergeld“ oder „jeder Bedürftige wird per negativer ESt aufgestockt“ sind durchaus noch in Diskussion. Die Idee von Frau Rhys-Williams 1940 wurde von Milton Friedman in den 60ern nochmal breit ausgewalzt. Nun forscht schön im Wiki. 😉 Meine 2ct, herzig helmut