Ein Gastbeitrag von Holger Hennig mit Ideen von Benedikt Kühn
Wenn wir Piraten auf unsere eigenen Veröffentlichungen hören, werden wir immer wieder ein Wort finden. Es heißt „entkriminalisieren“. Wir reden über Drogen und Filesharing, davon, dass Menschen kriminalisiert werden, die nichts Schlimmes tun. Für mich ein Grund, da auch noch ein Stück weiter zu denken: Warum strafen wir als Gesellschaft und bringt es irgendwas?
Die meisten Pädagogen haben sich heute von dem Prinzip der Strafe abgewendet. Konsequenz und Selbstverantwortung, das sind die Mittel, mit denen man viel mehr erreicht. Wenn aber das Prinzip Strafe keine pädagogische Rechtfertigung hat, welche Rechtfertigung gibt es denn dann für Strafen?
Kurzer Abstecher bei Hegel. In dessen Rechtsphilosophie heißt es sinngemäß, dass durch Verbrechen das Recht verletzt wird, und durch die Strafe diese Verletzung quasi bereinigt wird. Das klingt ja ganz nett und es ist noch immer ein extrem wichtiger Pfeiler der philosophischen Strafrechtsbegründung überhaupt. Aber mal ehrlich, das ist doch nicht haltbar, oder? Das würde ja heißen, dass es irgendwo in der hegelianischen Wolke eine Entität namens Recht gibt, die aus vielen Wunden blutet, und immer, wenn dann ein Verbrecher bestraft wird, dann schließt sich eine der Wunden. Was für ein metaphysischer Blödsinn.
Alle anderen Argumente – Strafen schrecken ab, Strafen bessern die Menschen – sind eigentlich schon lange empirisch widerlegt. Wer wirklich noch daran glaubt, dass Menschen aus Gefängnissen geläutert herauskommen, wird auch noch an den Osterhasen glauben. Und das mit der Abschreckung, das ist so eine Sache. Schon mal wegen der Angst vor Strafe auf einer Strecke langsam gefahren, auf der man sicher ist, dass man nicht geblitzt wird? Was keiner weiß, macht doch auch niemanden heiß, oder?
Bei Gewaltdelikten, bei Triebtaten, da ist mit Abschreckung doch eh Ende, oder? Wieso gibt es so viele Morde in Texas? In einem Staat, in dem es die Todesstrafe gibt und sie auch regelmäßig angewendet wird? Weil Abschreckung so gut funktioniert? Und was ist mit all den Menschen, die aus einem Trieb heraus missbrauchen oder vergewaltigen. Das ist doch alles strafrechtlich abgedeckt. Und die Aufklärungsquote bei Tötungsdelikten ist hoch, jenseits der neunzig Prozent. Dann dürfte es doch solche Verbrechen gar nicht mehr geben, oder?
Warum halten wir also an der Strafe fest?
Wir haben da ein tradiert-religiöses Motiv, die Frage von Schuld. Das knüpft an den christlichen Sündenbegriff an. Beides ist rein metaphysisch. Es gibt keine Schuld, die jemand aufhäuft, es gibt kein Sündenregister, nach dem irgendwer beurteilt wird, meine Güte, wir leben nach der Aufklärung. Und dieser Schuldbegriff funktioniert ohne Metaphysik, ohne absurde Worttricksereien nicht. Er betrachtet nur die Vergangenheit und transportiert die Taten der Vergangenheit in die Zukunft. Wie soll das denn gehen? Was hat die Vergangenheit eines Menschen mit seiner Zukunft zu tun?
Nein, es gibt zwei Motive, die eine Gesellschaft strafen lässt. Das erste und stärkste ist die Rache. Da hat jemand etwas Schlimmes getan, dafür wollen wir ihn am liebsten Lynchen. Ist das rational erklärbar? Fragt einen Psychologen.
Bestrafung durch den Staat ist institutionalisierte Rache. Der Staat rächt sich anstelle derer, die betroffen sind. Rache ist aber kein Motiv, das uns antreiben sollte. Rache macht die Tür auf für eine Gewaltspirale, und das ist vermutlich der Hauptgrund, warum unsere Vorfahren mal mit einer Gerichtsbarkeit überhaupt angefangen haben. Man wollte aus der Rachespirale heraus.
Das zweite Motiv ist Macht. Ein Staat, der sich erhalten will, braucht einen Machtvorsprung. Besonders dann, wenn eigentlich alle Macht vom Volke ausgehen soll. Man muss nicht weit schauen, bis man die staatliche Machtausübung sieht, die sich speziell gegen die richtet, die dem Staat unbequem sind. Strafe ist Einschüchterung, Strafe macht Angst, Angst macht regierbar.
Man merkt, ich stehe dem Prinzip Schuld und Strafe eher kritisch gegenüber. Aber gibt es noch andere Ansätze? Ist es nicht schon immer so, dass man Verbrecher bestraft hat? Es kommt auf die Kultur an. Bei den Römern gab es das Strafprinzip durchaus, nicht umsonst hatten die Liktoren Rutenbündel mit Beilen drin. Schaut man hingegen in die nordische Rechtsprechung – natürlich nur für freigeborene Männer, aber irgendwas ist ja immer – dann ging es da um Entschädigung. Ein durchaus sinnvolles Prinzip. Wenn einer dem anderen ein Auge ausstach, musste er dafür sorgen, dass derjenige finanziell so gut klar kam wie vorher. Es gab Blutgeld, das bezahlt werden musste und wenn Leute es übertrieben haben – ja, natürlich nach damaligen Verhältnissen – dann wurden Leute verbannt. Nicht als Strafe, sondern als Selbstschutz. Auch Selbstschutz ist ein hervorragendes Prinzip, viel intelligenter als Strafe.
Auch mittelalterliche Strafen wie Brandmarken und Pranger gehören zu den Selbstschutzmaßnahmen. Riss man einem Gesellen den Ohrring aus und zeichnete ihn damit als Schlitzohr, so wusste man, wo man mit dem Menschen dran war. Nein, ist auch nicht so richtig human, aber es ist begründet, was Strafe eben nicht ist.
Auf den Prinzipien Selbstschutz und Wiedergutmachung könnte man ein Rechtsystem aufbauen, das besser wirkt und nebenbei wahrscheinlich sogar noch preiswerter wäre. Man kann drei Kategorien aufstellen. Verbrechen mit menschlichem Opfer, Verbrechen mit juristischer Person als Opfer, Verbrechen ohne Opfer. Letzteres zuerst: Verbrechen ohne Opfer sind Quatsch. Alles Entkriminalisieren und zwar sofort.
So, jetzt aber mal an die wichtigen Sachen. Was ist mit Verbrechen an juristischen Personen? Wiedergutmachung sollte da reichen. Meinetwegen auch höher als der eigentliche Schaden. Es ist vollständiger Blödsinn Herrn Hoeneß in ein Gefängnis zu stecken, aber ihm alle hinterzogenen Steuern doppelt abzuknöpfen, das fände ich völlig in Ordnung. Damit kann man die Jagd auf Steuerbetrüger finanzieren. Ist keine Strafe, ist Wiedergutmachung.
Und was ist nun mit Gewalt? Mit Beleidigungen, Verletzungen, Vergewaltigung oder Mord? Da möchte ich zuerst auf die Opfer schauen. Die sollten im Mittelpunkt sein, wieso fixieren wir uns denn so auf die Täter? Das ist das Leben, kein Sonntagstatort. Der Staat sollte sich intensiv und mit professionellen Kräften um die Opfer kümmern. Das ist eine Arbeit, die man nicht Ehrenamtlichen überlässt, die im Zweifelsfall mehr kaputt machen, als sie nützen. Opferentschädigungen muss der Staat auch dann übernehmen, wenn die Täter nichts zahlen können. Wenn ich zusammengeschlagen werde, hilft es mir definitiv mehr, wen ich das Geld oder Hilfe im Wert von dem Geld erhalte, dass es kostet, die Schläger für ein oder zwei Jährchen wegzusperren.
Die andere Seite sind die Täter. Denen man Wiedergutmachung auferlegen muss. Aber man muss ihnen auch ermöglichen, diese Wiedergutmachung zu leisten. Das geht im Gefängnis echt nicht so einfach. Dann muss man sich anschauen, warum jemand zum Täter wird. Wenn man daran was ändern kann, dann muss man das tun. Ganz sicher muss man auch therapieren und zum Beispiel bei Triebtätern daran arbeiten, dass sie mit ihren Trieben umgehen lernen. Und wir müssen nicht darüber diskutieren, dass es Menschen gibt, bei denen das alles nicht hilft. Das ist klar. Ja, es gibt Menschen, die muss man für immer wegsperren. Aber doch nicht, um sie zu bestrafen. Um andere vor ihnen zu schützen.
Natürlich höre ich jetzt die, die sagen: Wer dieses oder jenes getan hat, dem ist nicht zu helfen. Wer das oder das getan hat, dem will auch niemand helfen. Vor allem: Die haben es nicht verdient, dass man ihnen hilft. Menschenverachtender Mist! Jedes Mensch verdient Hilfe, nicht aus Verdienst heraus, sondern weil es Mensch ist. Und egal, was Mensch getan hat, es gibt keinen Grund jemanden von Hilfe auszuschließen.
In einer Welt, in der es üblich ist, Opfern und Tätern zu helfen, dass insgesamt weniger passiert, würde ich mich wohler fühlen, als in einer, die Täter bestraft und Opfer allein lässt. Es braucht eine vollständige Überarbeitung des Strafgesetzbuches, das dann gern auch anders heißen darf.
Der diesem Text zugrundeliegenden Podcast: Carpe Noctem Podcast 10 – Schuld und Strafe
Gute Betrachtung. ABER ist die institutionelle Bestrafung nicht auch die Möglichkeit der Verhinderung der individuellen Rache?
Ich spreche hier nicht der jetzigen Form der Bestrafung das Wort, vermisse aber diesen Ansatz.
Für Andrea, auf daß es beginnt
Zu Beginn dachte ich, der Hollarius versteht es allmählich. Der Staat regelt es ? Der Markt regelt es?
Metaphysik und die Voraussetzung des Glaubens an diese:
Der Staat, der mit seinen Gesetzen über allem steht, der Nicht-Ort.
Der Markt, der mit seinen Gesetzen über allem steht, der Nicht-Ort.
Die Natur, die mit ihren Gesetzen über allem steht, der Nicht-Ort.
Gott, der mit seinen Gesetzen über allem steht, der Nicht-Ort.
Konstruierte Realität, die nichts mit Wirklichkeit zu tun hat. Realität, die von Menschen geschaffen wird.
Das Motiv ist GEHORSAM. (Persönliche) Macht bedingt Gehorsamkeit.
Bestrafung ist nur der eine Teil, der andere ist Belohnung.
Der Regulus, der Herrscher, macht die Regula, die Regel.
Manipulation ist das Mittel der Macht.
Die Gewalt ist vielfältig und wird oft nicht mal als solche erkannt, die Belohnung.
Wer Menschen entmenschlicht ist eben ein Täter und Opfer zugleich. Erst der WERTENDE, der emotionalisierte Mensch versucht daraus ZWEI Monopole abzuleiten und erschafft damit den Dualismus.
Menschen werden von Geburt an in ein Glaubenssystem gepresst. Das Ideal ist gut, alles andere ist böse.
In einer Welt die sich stetig verändert, kann es KEIN Ideal geben. Eine Idee, ein Urbild aus dem NICHTS ist eine Utopie.
Die Behauptung alles wäre Ideologie, wäre ein Widerspruch in sich, denn diese Behauptung selbst ist dann bereits eine Ideologie. Typischer Zirkelschluß.
Eine Deutung hat noch keine Bedeutung.
Dein eingeschlagener Weg ist durchaus konsequent, sofern Du die eingebauten Widersprüche entsorgst.
Auch in der Aufklärung wurde vieles nur verklärt und das bis heute.
Der Liberalismus hat mit Freiheit nichts zu tun, das läßt sich daran erkennen, daß er mit Wettbewerb, also Gewinner und Verlierer argumentiert. Er hält Sieger und Verlierer für gerecht. Dabei basiert dies auf einer WERTUNG, auf Emotionalität und nicht auf (fühlendem) Verstand. Willkür eben.
@Thomas Köhler
Es gibt keine Institutionen, sie sind Teil der geschaffenen Utopie.
Eine Nicht-Ort ist kein Ansatz, sondern ein Glaubenssatz.
Die Behauptung es gäbe Menschen, die die Zukunft oder die Vergangenheit vollständig kennen, ist eine dreiste und leicht zu durchschauende Lüge.