Wider die militärische Ultima Ratio: Gewaltfreie Alternativen zum Schutz von Menschen im Krieg
Wider die militärische Ultima Ratio: Gewaltfreie Alternativen zum Schutz von Menschen im Krieg

Wider die militärische Ultima Ratio: Gewaltfreie Alternativen zum Schutz von Menschen im Krieg

Ein Gastbeitrag von Dietrich Becker-Hinrichs

Was tun angesichts von Menschenrechtsverletzungen und Massakern an der Zivilbevölkerung in den Kriegen unserer Tage? Die Hände in den Schoß legen oder militärisch intervenieren? Allzu schnell reduziert sich die öffentliche, politische Diskussion um unsere Verantwortung in Konflikten auf diese Alternativen. Die Debatten, die zu dieser Frage in den letzten Jahren innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) geführt wurden, virtual reality headset sind meiner Ansicht nach repräsentativ für die öffentliche Diskussion.

Die EKD hat in den letzten Jahren wiederholt militärische Einsätze oder Waffenlieferungen befürwortet. Bezeichnend dafür ist die Aussage des damaligen Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Nikolaus Schneider im Jahr 2011. Er sagt: „Die Friedensdenkschrift (der EKD, d. Red.) hält den Einsatz militärischer Gewalt und damit Krieg als „ultima ratio“ für denkbar, wenn es dafür einen Rechtsrahmen gibt, d. h. ein Mandat der Vereinten Nationen. Mir ist bewusst, dass es Kirchen, Friedensfachorganisationen und konziliare Gruppen gibt, die das anders sehen. (…)

Unsere unterschiedlichen Antworten verweisen uns an die Frage, ob es Situationen gibt, in denen Menschen nicht schuldfrei bleiben können.

(…) Der Verzicht auf die Anwendung militärischer Gewalt lässt Menschen schuldig werden an den Opfern von Terror, ethnischen Säuberungen oder brutaler Gewalt staatlicher Machthaber gegen die eigene Bevölkerung. Und der Gebrauch mili-
tärischer Gewalt lässt Menschen schuldig werden als Täter.“

Ich bezeichne diese Argumentation als „Dilemmathese“. Mir ihr wird postuliert, dass man schuldig werde, wenn man wegschaue und so zum Beispiel Völkermord zulasse, und dass man ebenso schuldig werde, wenn man militärisch eingreife. In der jüngsten Vergangenheit wurde dieses Argumentationsmuster wiederholt zur Begründung militärischen Eingreifens eingesetzt.

Der protestantische SPD-Politiker Erhard Eppler nutzte die gleiche Argumentation, um vor dem Parteitag der SPD im April 1999 die Zustimmung der Sozialdemokraten zum Militäreinsatz der Bundeswehr im Kosovokrieg zu erreichen. Er sagte: „Tragisch ist eine Situation, wenn man schuldig wird, ganz gleich, was man tut.“ Zur Beteiligung am Luftkrieg der NATO gegen Jugoslawien meinte er weiter, er habe das Gefühl, „dass wir ein bisschen weniger schuldig werden, als wenn wir es nicht täten

Die Rede vom Dilemma führt in die Irre

Proteste

 

 

 

 

Bild: Proteste gegen die Luftangriffe der britischen Armee auf Libyen im Jahr 2013.

Die Rede von der einzigen Alternative zwischen Nichtstun und militärischem Eingreifen ist unzureichend für die ethische und politische Urteilsbildung: Sie blendet aus, dass es in jeder Situation mehr als nur zwei Handlungsmöglichkeiten gibt. In unserer komplexen Wirklichkeit stehen uns Dutzende von Alternativen zur Verfügung, die Unrecht eindämmen und menschliches Leiden verringern können, ohne die negativen Folgen und Risiken militärischer Interventionen in Kauf zu nehmen. Auch wer Flüchtlinge aufnimmt, handelt verantwortlich und rettet auf diese Weise Menschenleben.

In dieser Hinsicht entlarvend sind Äußerungen von Premierminister Cameron, der sich im Sommer 2013 für einen britischen Militäreinsatz in Syrien einsetzte. Er argumentierte: „Wir können nicht die Hände in den Schoß legen. Wir müssen etwas tun. Darum plädiere ich für ein militärisches Eingreifen in Syrien.“ Das britische Parlament folgte seinen Argumenten nicht. Am 29. August 2013 überstimmte es den Premierminister und lehnte den Einsatz britischer Truppen in Syrien ab. Nach der Abstimmung stellte ein BBC-Reporter Cameron die Frage: „Heißt das nun, dass Großbritannien nichts tun wird, um den Syrern zu helfen, und die Hände in den Schoß legt?“ Cameron antwortete: „Nein, überhaupt nicht. Wir haben viele Möglichkeiten, den Syrern zu helfen. Großbritannien wird seine diplomatischen Bemühungen verstärken, wir werden unsere humanitäre Hilfe aufstocken, wir werden alles tun, was in unserer Macht steht, das Leid der Menschen in Syrien zu lindern.“ Plötzlich gab es für Cameron nicht mehr nur die Alternative Nichtstun oder militärisches Eingreifen. Eine Fülle von Handlungsmöglichkeiten tat sich auf.

Militäreinsätze – es kam immer anders als geplant

Die Beschreibung eines Dilemmas zwischen militärischem Eingreifen oder schuldhaftem Nichthandeln dient in der Regel zur Legitimierung des Einsatzes militärischer Mittel. Die Dilemmathese ist jedoch völlig unzureichend für die ethische Urteilsbildung, weil überhaupt nicht nach dem Maß der eingesetzten Mittel gefragt wird und keine Grenze benannt wird, jenseits derer der Einsatz militärischer Mittel ausgeschlossen bleiben muss. Ihre Wortführer verkennen zudem völlig die Eigendynamik und Eskalationsdynamiken von Kriegen, die letzten Endes in vielen Fällen zur Verschlimmerung der Lage geführt haben.

Entwickelt sich ein militärischer Einsatz zum Krieg, dann treten stets Faktoren auf den Plan, die der Politik das Heft des Handelns aus der Hand nehmen. Der amerikanische Kriegsforscher Gabriel Kolko stellt in seiner Analyse der Kriege des 20. Jahrhunderts fest: „Die Planung der Kriege in diesem Jahrhundert zeugt stets von Wunschdenken, so zum Beispiel allein durch hohe Mobilität einen glatten Sieg zu landen oder, neuerdings, mit der Luftwaffe und modernsten Techniken ‚kurzen Prozess‘ machen zu können. Militärstrategen haben zwar durchaus großartige Pläne gemacht, aber es kam immer ganz anders.“ “Sobald ein Krieg einmal vom Zaun gebrochen ist, beherrschen gänzlich unvorhersehbare Faktoren seinen weiteren Verlauf, was sich immer wieder aufs Neue bestätigt hat.“ Was Kolko für das 20. Jahrhundert analysiert, gilt ebenso für die Kriege der letzten 15 Jahre im Kosovo, in Afghanistan, in Libyen oder in Syrien/Irak. Der Politikwissenschaftler Michael Lüders weist in seinem neusten Buch sehr deutlich auf die Verbindung zwischen den Kriegen des Westens und der Entstehung des islamistischen Terrors bis hin zu IS hin. „Wer Wind sät, wird Sturm ernten“, lautet seine Analyse. Die Kriege des Westens, die begonnen wurden mit dem Ziel, den Terrorismus zu bekämpfen, haben sich in ihrem Verlauf zu einem wahren Terrorzuchtprogramm entwickelt.

Zivile Konfliktbearbeitung kennt viele Alternativen

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Bild: Die Peacekeeper der Nonviolent Peaceforce kontrollieren den Waffenstillstand zwischen den philippinischen Regierungstruppen und den Rebellen auf Mindanao.

Wenn man angesichts eines Konfliktes vor der Wahl steht, militärisch einzugreifen oder sich mit den Mitteln der zivilen Konfliktbearbeitung einzumischen, gilt es folgende Fragen zu beantworten: Welcher Ansatz ist der nachhaltigere, welcher ist der, der mehr Perspektiven für ein späteres Zusammenleben von Angehörigen verschiedener Religionen und Völker bietet? Welcher Ansatz kostet voraussichtlich weniger Menschenleben? Welche Alternative birgt weniger Gefahren, dass neue gewalttätige Konfliktkonstellationen aus den derzeitigen entstehen?

Dies sind dann die Kriterien, die eine Entscheidung über Handlungsoptionen leiten sollten. Die Dilemmathese, die nur die Alternativen Militäreinsatz oder Nichtstun kennt, hilft bei der ethischen Urteilsbildung nicht weiter. Sie dient in der Regel nur dazu, militärische Gewalt zu legitimieren und die Gewissen der politisch Handelnden zu beruhigen.

Gewaltfreie Mittel greifen nicht sofort, aber sie sind wirksam. Sie können Gewalt minimieren, weil sie an den Strukturen ansetzen. Es geht darum, die Stützen des Unrechts sichtbar zu machen und sie zu schwächen. Dazu gehören wirtschaftliche Sanktionen genauso wie die Kritik an falschen ideologischen oder religiösen Legitimationsmustern. Es gilt, Waffenexporte zu unterbinden und die Geldströme,
die ein mörderisches Regime am Leben halten, auszutrocknen. Es geht um die Stärkung der Zivilgesellschaft und den aktiven Schutz von Menschen vor Verfolgung. Die Möglichkeiten, ohne den Einsatz militärischer Gewalt Menschenleben zu retten, sind vielfältig.

Selbst in Zeiten des Genozids ist es möglich, mit gewaltfreien Mitteln Menschen Schutz zu bieten. Der mutige Einsatz der Muslime und Muslima in Ruanda ist dafür ein leuchtendes Beispiel. Die Minderheit der Muslime und Muslimas in dem überwiegend katholischen Land war als einzige Religionsgemeinschaft nicht in den Völkermord verwickelt. Die Dörfer der Muslime wurden während des Genozids in Ruanda im Jahre 1994 zu Schutzzonen für Verfolgte. Wir kennen ähnliche Beispiele aus der Zeit des Dritten Reiches.

Während die Politik nach wie vor Milliarden für militärische Einsätze ausgibt, werden für zivile Einsätze nur Millionen aufgebracht. Aufgrund der tatsächlichen Folgen der militärischen Interventionen der letzten Jahre, die in vielen Fällen die Lage oft verschlimmert als Menschenleben gerettet haben – das schlimmste Beispiel dafür ist der Militäreinsatz in Libyen –, sollte sich das Verhältnis hier umkehren. Wer mit gewaltfreien Mitteln Konflikte angeht, bleibt nicht passiv und legt die Hände in den Schoß, sondern schafft Raum für Lösungen, die Frieden bringen können.

Der vollständige Vortrag mit ausgeführten Beispielen zum gewaltfreien Schutz von Menschen in Zeiten des Genozids findet sich auf der Webseite der Werkstatt für Gewaltfreie Aktion, Baden: www.wfga.de

Buchempfehlungen des Autors:
Markus Weingardt, Was Frieden schafft – Religiöse Friedensarbeit, Gütersloh 2014.
Michael Lüders, Wer den Wind sät: Was westliche Politik anrichtet, München 2015.

Dieser Artikel erschien im MAGAZIN forumZFD 4/2015. Unter diesem Link finden Sie weitere Artikel dieser Ausgabe und die Möglichkeit zur Bestellung des MAGAZINs.

Titelbild von Peira hinzugefügt: Quelle pixabay CC0 Public Domain

(Bild oben: ©stop the war coalition)
(Bild unten: ©Nonviolent Peaceforce)

 

 

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