Ein Gastbeitrag von Wolf-Dieter Narr – angeregt von Rainer Thiem und mit ihm ausgeführt
Das letzte Buch, das ich 2015 gelesen habe, am Kriegsende 1945 noch jung „erfüllter“ Nazi, geboren im März 1937, fixiert die vielfältige und in seinen Dimensionen und Aspekten nicht fassbare Aufgabe ohne Ende. Vergleiche Frank Bajohr und Andrea Löw als Herausgebende: „Der Holocaust. Ergebnisse und neue Fragen der Forschung“. [1] Obwohl alle Schreibenden und Forschenden und jeweils in ihrer Art Leidenden (vgl. den eröffnenden Beitrag des Freiburger Historikers Ulrich Herbert) so tief und extensiv in der unaussprechbaren menschlichen und – in Sachen Täter – zugleich menschenfraglichen ihres erfahren erforschten Themas und der Fülle seiner Facetten stecken, kommen sie fragenreich über Aporien nicht hinaus. Oder anders gesagt: sie können, die nicht säuberlich sortierbare Vielfalt des Verhaltens in keine klaren und eindeutigen Begriffe fassen. Der nazistische Morast verschlingt sie selbst. Alle Aufklärung versagt. Sie fällt bestenfalls, mit meinem wichtigsten Lehrer, Theodor W. Adorno, gesprochen, „negativ dialektisch“ aus.
Warum beginne ich, das Thema, das Herz und Verstand ausmacht, jetzt da mein Leben absehbar geschlossen wird? Mein Wissen ist im Laufe der Jahrzehnte nicht gewisser geworden. Vor allem, weil es mir gerade in meinem jahrzehntelang geübten Lehrberuf darauf angekommen ist, mein und anderer Wissen zur habituell zu eigen gemachten Erfahrung zu prägen. Nicht wohlfeil im Zuge des Wandels der Einsichten auf die eine oder andere Seite zu drehen, sich vielmehr wissend und irrend gegen nahe gelegte Opportunismen zu kehren: Darauf kommt es an.
Vater und Mutter, geboren 1904 und 1905, denen ich bis in ihre Todesjahre Anfang der 90er Jahre des mörderisch penetranten Jahrhunderts – nur im atemlosen menschlichen Raubbau „kurz“ zu nennen (vgl. Eric Hobsbawm [2]) – achtungsvoll und in Liebe zugetan gewesen bin, waren beide, als Personen ansonsten verstandes- und gefühlsklar, bald nach der „Machtergreifung“ pervers gläubige und aktive Nationalsozialisten.
Lange habe ich daran gedacht, eine zeit- und umstände-bezogene Biographie meines Vaters zu verfassen, um Vieles leichter die meiner Mutter. In den letzten Jahren des „Dritten Reiches“ war der kränkliche Intellektuelle Vater im „SD“ tätig. Im „Sicherheitsdienst“ war er im Rang eines „Obersturmbannführers“, Eichmanns Rang, funktional anders in Berlin Bernau, meines Wissens im Innendienst, beschäftigt, dem „Verfassungsschutz“ der „NSDAP“. Nach meinen unzureichenden Recherchen wurde er nie in genozidalen „Einsatzgruppen“ tätig, die vor allem im Osten des „Deutschen Reichs“ und den Gebieten der Sowjet-Union Hekatomben von Menschen wahllos hinschlachtend, eingesetzt wurden. Damit die rasch aufgestiegenen Intellektuellen des Regimes mörderischen Bluts kundig und schuldig würden.
Viel Ungeheuerliches gibt es – das Ungeheuerlichste aber ist der Mensch
Seit dem zuletzt hingerichteten Otto Ohlendorf in den frühen fünfziger Jahren, vergeht kein Tag, an dem ich über das Parteiverhalten meiner Eltern ohne zureichendes Ergebnis rätselte. Mein Wissen über die „Generation der Unbefangenen“ (Wild) oder Ulrich Herberts Biographie über Heydrichs zeitweisen Stellvertreter Best [3], wie andere detektivische Untersuchungen, haben mich mitschuldig kenntnisreicher gemacht. Mutmaßlich sind die Untaten nicht in Ursachen und Wirkungen kausal zu reihen. Wie andere facta bruta, die die Haare zu Berg stehen machen, sind sie nicht erklärend glatt zu streichen und biographisch zu entsperren.
Viel Ungeheuerliches gibt es, dichtete Sophokles im kollektiven, auf Erklärung erpichten Chorlied: das „Ungeheuerlichste aber ist „der“ Mensch“. Ich fürchte, ob frühkindliches Waisentum, pietistische Erziehung, die „Entdeckung des Geistes“ (Bruno Snell [4]) oder andere Verhalten und Bewusstsein formierenden Faktoren: Es gibt keine „Wahrheit“, die mich, zusätzlich zur bitter bleibenden Kenntnis des kollektiven und des individuellen Fehlverhaltens außertheologisch „frei“ machen könnte. Auf das eigene und a n d e r e Verhalten kommt es an. Meine Erziehung war antiautoritär. Ich weiß nur von Innen nach Außen, ein radikal anderes, ein nicht projektives Verhalten zählt. Sozial und a-sozial zugleich. Viele der gesellschaftlich und politisch allgemeinen Ursachen der Taten, wie vor allem der nicht auszulotenden Untaten sind mir im Überdruck bekannt. Die Lebenswirklichkeit meiner Eltern jedoch, so intim ich sie kannte, ihr „gelebtes Leben“ der ersten knapp vierzig Jahre, bleibt mir jammervoll fremd.
„Wiedergutmachung“ zum ersten
„Sie selbst haben über diese Kriegsverbrechen in einem anderen Zusammenhang gesagt“, so Karl Jaspers zu Rudolf Augstein. Mit Augstein sprach er ausweislich des Buches, „Wohin treibt die Bundesrepublik?“ [4], 1966 – siehe auch die folgenden Zitate. „Es sind Verbrechen, die vom politischen Willen des Staates bestimmt waren und sich daher von der Persönlichkeit des einzelnen Täters loslösen. Das scheint mir die Problematik im Wesentlichen zu treffen.“ (S. 19). Der eigene Unfrieden bleibt. Das wird in der folgenden Passage noch durchsichtiger. „Jaspers: Wenn Sie mir erlauben, möchte ich vorweg die These erörtern, dass es unmöglich ist, Recht und Politik als zwei absolut getrennte Gebiete voneinander zu sondern. Das Recht ist überall in der Welt begründet auf einen politischen Willen, den politischen Willen der Selbstbehauptung der Ordnung eines Staatswesens. Deswegen hat das Recht zwei Quellen: diesen politischen Willen und die Idee der Gerechtigkeit. Die Idee der Gerechtigkeit, die als eine ewige Idee beansprucht wird, die niemand hat und der man sich anzunähern hat.“
„Mir scheint nun, dass der Nazistaat für Deutsche einen Einschnitt bedeutet, wie er für sie noch nie war. Ein Weiterleben nach dem Nazistaat setzt eine geistige Revolution voraus, eine sittlich politische Revolution auf geistigem Grunde. Nur wenn man entschlossen ist, anzuerkennen, dass die Kontinuität hier unterbrochen ist – […] – hier ist im entscheidenden Punkt des sittlich politischen Bewusstseins die Kontinuität unterbrochen. Nunmehr schaffen wir die Voraussetzung unserer jetzt gewollten politischen Ordnung – nur unter dieser Voraussetzung kann man meines Erachtens heute politisch vernünftig reden.“
„Ein Verbrecherstaat ist ein solcher, der im Prinzip keine Rechtsordnung anerkennt und stiftet. Was Recht heißt, und er in einer Flut von Gesetzen hervorbringt, ist ihm ein Mittel zur Beruhigung und Unterwerfung seiner Menschenmassen, nicht etwas, was er selber achtet und einhält. Was er will, ist Verwandlung der Menschen selber durch Gewalt, die die Menschheit im Ganzen unterwirft, geführt von irgendwelchen Vorstellungen von Menschen, die in der Tat, das Menschsein aufheben. Sein Prinzip bezeugt er durch Ausrottung von Völkern, die gemäß seiner Entscheidung keine Daseinsberechtigung auf der Erde haben sollen.“ „Den Verbrechensstaat als Verbrechensstaat klar vor Augen zu haben, ist die Voraussetzung jeder weiteren Argumentation. Hier handelt es sich nicht um Meinungsverschiedenheit. Hier wirkt ein Kampf im staatlich-sittlichen Gesamtwillen selber.“
„Wiedergutmachung“ – zum zweiten
Der nationalsozialistische Grabenbruch jeder Form eines deutschen Gemeinwesens in verlorener Kontinuität war im Zweiten Weltkrieg nazistisch inhuman verbreitert und exzessiv vertieft worden. „Wiedergutmachung“ muss seither bestenfalls als groteske Anmaßung der deutsch Überlebenden und ihrer Regierungen erscheinen. Ihre Praxis wurde unmöglich. Dennoch wurde der Begriff „Wiedergutmachung“ – wer ihn zuerst kürte, habe ich nicht ermittelt – zur umstrittenen Leitformel der ersten Nachkriegsjahrzehnte. Die Bundesregierung läutete unter dem zweiten Kanzler sobald die Wiedergutmachung, so schien es, „Ende der Nachkriegszeit“ westdeutsch ein.
Mit Beginn der BRD wurde zuvor schon die spezifisch deutsch verkannte „Wiedergutmachung“ politisch-materiell von Israel, gerade entstanden, bitter arm, verlangt. Früh kam deswegen in den 50er Jahren ein von Nahum Goldmann vermitteltes Abkommen zwischen Ben Gurion und Konrad Adenauer zustande. Es umfasste bundesdeutsch zuerst sehr magerere individuelle und kollektive Leistungen von Westdeutschland nach Israel oder vereinzelt Klagende. Vergleiche für die frühe und die späte Phase der „Wiedergutmachung“ Christian Pross „Wiedergutmachung. Der Kleinkrieg gegen die Opfer [5] und Norbert Frei et. al.: Die Praxis der Wiedergutmachung, Geschichte, Erfahrung und Wirkung in Deutschland und Israel [6].
Als wäre das mit der Wiedergutmachung einfach zu machen. Als wäre, was der Nationalsozialismus und sein Regime, weltweit angerichtet haben, überhaupt „wieder“ herzustellen. Als passte das restaurativ gerichtete Wort zu nicht wieder lebendig werdenden Menschen. Als könnte die Zerstörung ganzer Kulturen – angefangen des osteuropäischen Lebens in Stetlen – wieder aufgebaut werden. Als könne ausgerottetes Leben mit menschlichem Odem w i e d e r belebt werden!!? Je mehr ich, ein kümmerlicher Einzelner in die verlorene, nicht wieder (!) zu restaurierende „Wirklichkeit“ dringe, unwirklich gemacht, enteignet, entwirklicht, die einst lebend existierte, desto mehr wird einsichtig, dass Zerstörungen, dass Morde, die Menschen vom Leben in den Tod, ins Nichtsein beförderten, ohne Grabmale, absolute Phänomene darstellen: leblos, mehr noch Gegenleben, die nicht wieder belebt werden können. Leben kann nur dort aufgehoben werden, wo nachkommende Menschen möglich machen, zerstörte Kulturen wieder instand zu setzen.
Insgesamt gilt, sobald von Wiedergutmachung, von organisch geistig seelischem Leben gesprochen wird, ist man von Tod und Toten umgeben. Also spricht man von „Wiedergutmachung“, indem man Leben scheinlebendig vorgibt. Gefahr droht, wahrhaftes Leben mit dem Schein des Als Ob erneut dem Tod auszuliefern. Als geriete man in die homerische Unterwelt der Schattenbegegnung.
Wiedergutmachung steht eine Welt der Schemen, der Schatten gegenüber. Sie gibt nicht vor, die Aberfülle nazistischer Vernichtungen ließe sich lebenswirklich ersetzten. Gerade darum ist es nötig, die tödlichen, mordend bereiteten Grenzen zu bedenken. Wiedergutmachung hat dann und nur dann einen Sinn, Lebenden nach den Toten zu erlauben, neues und besseres Leben zu ermöglichen, indem sie der Toten gedenken. „Herr lehre uns, dass wir sterben müssen. Auf dass wir klug werden“, heißt es, Luther-Deutsch, im 90. Psalm des Alten Testaments.
„Wiedergutmachung“ klingt darum der Zeit entgegen viel zu aktiv und machbar. Wie ein sportliches Motto, frei, frisch, fromm, fröhlich. Ihm entsprach eine bestenfalls klägliche bundesdeutsche Verhaltenswirklichkeit in den ersten post-nationalsozialistischen Jahrzehnten tief in die sechziger Jahre. Das, was die Bundesdeutschen über die anderen „Wieder“ hinaus leisteten, von Schuttwegräumen, den Hohlblock aufbauend eifrig hergestellt, die Wirtschaft steuerbegünstigt in Gang zu setzen, schon Anfang der 50er Jahre, amerikanisch gefördert und verlangt, die ersten Schritte der Remilitarisierung, all das bestand vor allem darin, sich in Sachen „Wiedergutmachung“ äußerst rechtsumständlich, kontrollübermäßig und bürokratisch pfennigfuchserisch knapp zu halten. Das gilt heute, fast analog, den Flüchtlingen und Asylsuchenden rechtsumständlich, strangulativ zeitaufwändig und lebensvermindernd – die Rechte sind üppig allein in ihrer abschreckenden Komplexität, naziwörtlich selektiv. So betrieb man es, repressiv und restriktiv in den Berechtigungen und Verfahren, nazistischer Opfer mit immer erneuten Untersuchungen, peinlichen Identifikationen und aufwändigen Verfahren weitere Menschen leidend zu unterwerfen.
Tradition heißt nicht Asche aufzuheben, sondern die Flamme am Brennen zu erhalten
Wie außerdem während der Geschichte der BRD bis in die Gegenwart und ohne die SED kalte antikommunistische Flammen weiterzüngeln, so flammten sie trennscharf bis tief in die 80er Jahre. Selbst das oft in seiner menschenrechtlichen Substanz und ihm entsprechenden Formen überschätzte Bundesverfassungsgericht zeigt sich bis zu seinen nicht herausgerückten dokumentarischen Belegen unfähig, auf die nicht freiheitliche Ordnung zu verzichten. Stattdessen engt er die freiheitliche Demokratie ohne die anarchierüchige „Grund-Ordnung“ im kontraproduktiven „Verfassungsschutz“ politisch rechtslastig ein. Nach Tausenden von Verfahren gelang es erst spät, die Wiedergutmachung deutsch reflexiv zu verwenden. Diejenigen, die sie im Sinne nicht zuletzt der Selbstbefreiung verstanden, waren längst ausgeschieden: wie Otto Küster, Adolf Arndt, Franz Böhm und anderen, von Eugen Kogon und Walter Dirks zu schweigen. Sie repräsentierten und verlangten ein anderes, aus tiefer Not lernendes Deutschland. Ihnen galt und gilt das Rabbiwort. Adolf Arndt zitierte es als kurzzeitiger Berliner Kultursenator: „Tradition heißt nicht Asche aufzuheben, sondern die Flamme am Brennen zu erhalten.“ Sonst wären auch die lange einflussreichen, wenngleich meist eher geheimen Antisemitismen nicht möglich gewesen, die ein jahrelang führender Staatssekretär nach Adenauers kenntnisreichen Worten „braun, geradezu tiefbraun“ repräsentierte. Gemeint war der Kommentator der „Nürnberger Gesetze“ Staatssekretär Globke. Man betrachte nur die Art und Weise, wie der Beamtenapparat kollektiv aufs Verfassungsniveau der „fdGO“ gehoben worden ist.
Freilich, dass die Prägekräfte, wirksame Sprache und die autoritär faschistoiden Habitus vieler, bald bundesdeutschen Institutionen, den deutschelnden„Spiegel“ eingeschlossen, nicht von einem Tag auf den anderen verschwanden, verstand sich angesichts vieler, institutionell wirksamer Institutionen und einer Bevölkerung und ihrer „neu“ allenfalls gewählten Politiker nahezu von selbst. Mit wenigen neuen Personen, war eine allgemeine, unvermeidlich scheiternde „Entnazifizierung“ und ein „Geist der Epoche“ gemäß dem radikalen Linkskatholiken Walter Dirks nur „restaurativ“ möglich. Vergleiche Walter Dirks, der zusammen mit Eugen Kogon die „Frankfurter Hefte“; europäisch demokratisch gerichtet, herausgab.
„Wer Jude ist, bestimme ich!“
Die Etappen der Wiedergutmachung sollen hier nicht im Einzelnen rekapituliert werden. Zunächst war sie auf das ungeheuerlichste Verbrechen der herrschenden Nationalsozialisten gerichtet: Den genetisch, „rassistisch“ nicht begründbaren Individual- und Massenmord, an den Juden. Die willkürlich erfundene jüdische „Rasse“ kannte ihrerseits nur ausrottende Grenzenlosigkeit. Die Beliebigkeit belegte der Satz, den Hermann Göring zuerst gebraucht haben soll, „Wer Jude ist, bestimme ich!“
Das Spektrum der Vernichtung, in eroberten Ländern ohne Wahl und Grenzen, reichte von Frankreich über vor allem osteuropäische und sowjetische eroberte Regionen. So wie mit ihnen nach der bedingungslosen Niederlage nazistischer Herrschaft keine verzögerten „Friedensverträge“, oder nötige Abfindungen von Nachkriegsdeutschland beschlossen wurden, gingen die diskriminierungsprallen Prozesse in Sachen „Wiedergutmachung“ nazistischer Verbrechen trotz ihrem materiellem Raub und ihrer Ausbeutung lebenswichtiger Mittel leer aus. Wer zählt die Gruppen, nennt die tödlich Ausgesonderten wie die selbst von ihren Angehörigen allein gelassenen Opfer, Stichwort „Euthanasie“, der nicht als „erbgesund“ gewerteten Angehörigen der deutschen Bevölkerung. Wer listete die Bevölkerungen auf, die „selektiv“, nazipauschal je nach Nazilaune und aktuellen Interessen hingemordet worden sind. Zu den willkürlich ausgebeuteten und, wenn´s gerade passte, gemordeten, zählten auch Griechenland und seine Juden. Griechische Opfer sind aus aktuellen unionseuropäischen Gründen jüngst von Götz Aly und Karl-Heinz Roth wieder ergründet worden. Vergleiche Götz Aly, Volk ohne Mitte [8) und Karl-Heinz Roth, Griechenland am Abgrund. Die deutsche Kriegsschuld [9]. Wollte man im Übrigen die griechischen Traumata – samt griechischem Fehlverhalten à la Militär und seine teure, unsinnige, gewiss nicht der Bevölkerung nützliche Paraden – einigermaßen angemessen einschätzen, man müsste mit der europäischen Ungleichheiten erhaltenden Bastelkunst ins Gericht gehen.
Der aktuelle Umgang mit Flüchtigen zeigt, dass die nazistische Vergangenheit immer noch wirkmächtigen Einfluss auf aktuelle Gesetze hat
Die bis heute zuweilen hektisch ausgebaute Europäische Union als Möchte Gern und selbstredend „verantwortliche“ Großmacht kann nur als Muster ohne Wert und imperiale Farce diagnostiziert werden. Das kontinuierlich europäisch betriebene krokodilstränig beweinte „Ersäufnis“ um Lampedusa, tief nach Nordafrika reichend, nähme deutsch und europäisch Rang eines menschenrechtswidrigen Verbrechens ein. Insgesamt verdient der bundesdeutsche Umgang mit Flüchtlingen die Bewertung mit einem unmöglichen Ausdruck bezeichnet: der Wieder-, vielmehr der imperialen Schlechtmachung. Hier zeigt sich spätestens seit dem ersten Bundesdeutschen Flüchtlingsgesetz 1965, wie wenig kollektives, regierungsamtliches Lernen irgend „wiedergutmachend“ stattfand. Die BRD hat vor allem wirtschaftswunderlich und zugunsten der eigenen Leute profitiert, die gerade noch als „Rucksackdeutsche“ ihre leeren Säcke ausbeulten. Seit bald einem halben Jahrhundert vermöchte die BRD zu demonstrieren, dass und wie sie kollektiv gelernt hätte. „Wiedergutmachend“!! Stattdessen: Weg mit Menschen, die nicht unmittelbar brauchbar sind. So stand das 65er Gesetz in Kontinuität des letzten Nazi – Gesetzes von 1938.
Von der „Gastarbeiter“ Täuschung seit Ende der sechziger Jahre reicht eine, verfassungsgerichtlich abgesegnete Diskriminierung unerwünschter Flüchtlinge bis zu den jüngsten Regelungen der EU. Die von der Schmidtregierung entworfenen, von der Kohl-Administration angewandten Gesetze schufen nach den zersiedelten Displaced Persons neue, bundesdeutsch originelle Lager. Sie begrenzten die Arbeitsmöglichkeiten drastisch. Sie waren reich nur an Diskriminierungen. Beispiele über Beispiele! Vergewaltigte Frauen wurden nicht als zum Asyl Berechtigte anerkannt. Gefolterte Menschen übersah man, wenn Folter, in dem Land aus dem sie flohen, üblich war, inhumane Bedingungen, die das betreffende Individuum nicht als Person direkt betrafen, wurden nicht beachtet. Statt das Grundrecht anzuwenden, das der Parlamentarische Rat im Grundgesetz einzigartig verabschiedete, – ein einzig da stehendes Recht, Asyl gewährt zu erhalten, ein Lernergebnis der Nazizeit (Art 16 II, GG), wurde sein angeblicher Missbrauch zum Hauptthema der deutschen Einigungsdebatte Anfang der 90er Jahre. Das im Nazideutsch ausgemerzte Grundrecht, seine qualitative Schmälerung, die heute von den EU-Staaten insgesamt übernommen worden ist – die vereinte europäische Republik der Diskriminierung ! – stellen die viel zu großen Kosten der insgesamt menschenrechtlich positiv zu bewertenden, national jedoch kropfunnötigen „Wiedervereinigung“ dar.
Flüchtlinge, sprich flüchtige Menschen ohne – mit Hannah Arendt zu reden – das Recht Rechte zu haben, werden bundesdeutsch und entsprechend der misslungenen, verfasssungsarmen Europäischen Union so drangsaliert, dass sie es vorziehen, sich von Schleppern zu Tode helfen zu lassen. Diese setzen sie, von der EU bewirkt, nicht in den Sand, sondern ins Wasser. Als litten sie und ihre Lungen und Mägen dauernd an mittelmeerisch zu füllender Trunksucht. Als wären sie sie selbst schuld. Der verwirrende Reichtum Europas, das Mare nostrum, macht sie sich aufgedunsen zu eigen. Humanitas humana europäisch dekliniert. Bitte auf keinen Fall eine bundesdeutsch gefürchtete „Transferunion“, die den sozialen und politischen Ausgleich unter der ungleich strotzenden EU bewirkte.
Die Erde könnte mehr als ein Ensemble von Jammertälern sein – Für alle und ohne kriegerische Aggression
Die FAZ druckte jüngst eine verbal eher sanft formulierte Kontroverse zwischen Navid Kermani – „Warum Europa uns jetzt braucht“ – vom 22.4. 2015 und meinem Alters- und Berufskollegen, Peter Graf Kielmansegg, am 29.4. 2015: „Was Empörung ignoriert“. Während Kermani vor allem das „Westliche Bündnis“ mit Saudi-Arabien kritisierte und zusätzlich zur am meisten der EU, jedenfalls ihren „Werten“ widersprechenden europäischen Institution FRONTEX, just in Warschau installiert, hinwies – sie macht schon lautmalerisch den eigenen Körper frieren, sie macht human das Herz pochen –, führt Graf Kielmansegg eine Reihe von bedenkenswerten, jedoch lückenreichen Umständen an, warum „Europa“ gern möchte, aber nur kontraproduktiv könnte. Welch ein Ungleichgewicht! Gutmachen zu wollen, jedoch verantwortlich nur für sich selbst sorgen zu können! Die BRD, wie sie leibt und lebt! Das ist der selbst bezogene Besitz – Individualismus, der die EU samt der neuen, glücklicher Weise militärisch noch unvermögenden, unverschämt reichen deutschen „Führungsmacht“ präpariert, anderwärts ohne eigenes Konzept und ohne andere Mittel, als sich selbst zu bereichern.
Hätte die BRD und ihre Bevölkerung in ihrer satten Mehrheit ihre „Verantwortung“ und den politisch moralischen, das heißt substantiell menschenrechtlichen Sinn ihres postnationalsozialistischen Überlebens und der darin und dadurch praktizierten Wiedergutmachung be -, mehr ergriffen, dann würde sie den ärmsten der armen Bevölkerungen helfen, im Sinne überschaubar organisierter Größenordnungen und in ihnen allen geltender Gleichrangigkeit. Dann könnte ein wundersam mögliches foedus pacificum ohne Macht- und Größengerangel: im Sinne Immanuel Kants werden. Als verwirklichte Pluralität in Europa und gestaltbarer Gleichheit. So aber, wie die EU funktioniert, wäre es bei weitem vorzuziehen, die europäischen Länder und ihre Einwohnerinnen und Einwohner verzichteten, auf jede Erweiterung. Von Nöten wäre vielmehr, die innere Gestaltung der zu zahlreichen europäischen Länder, in dem man unter anderem versuchte, sie im Umfang ihrer Bevölkerungen, ihrer Gebiete, ihrer ressourcenreichen und armen oder reicheren und ärmeren Regionen anzugleichen und entsprechende Formen des Austauschs zu installieren. Das gälte auch für die immer in ihren einzelnen Mitgliedern ernst zu nehmenden Flüchtlinge, die ein- und ausströmenden Gruppen der Migrantinnen und Migranten. Auf diese Weise könnte ein homogeneres, ein zugleich demokratisch teilnahme- und teilhabefähigeres Europa entstehen. Kurz um die Voraussetzungen für mehr Demokratie mitsamt menschenrechtlicher Gleichheit wären gegeben oder könnten geschaffen werden. Dann, und Stück um Stück vermöchte ein Europa oder eine andere Region zu entstehen. Sie wäre nie ohne Spannungen und Konflikte, sie vermöchte jedoch ausgeglichenere oder ausgleichbare Lebensweisen in sich und an ihren Grenzen zu organisieren. Genug. Wenn mehr Gruppen in Europa und anderen Regionen dieser gewaltdurchsetzten, dauernd gewaltförmig explodierenden Regionen, die in den anfänglich skizzierten Überlegungen enthaltenen Chancen begriffen und umsetzten, würde die Erde mehr als ein Ensemble von Jammertälern. Europa und andere Erteile würden zu Agglomerationen von Lebens- und zugleich Organisationschancen, die das Leben auf dieser sonst fast nur ungleich ausgebeuteten Erde lohnten. Für alle und ohne kriegerische Aggression.
[1] Frank Bajohr und Andrea Löw
Der Holocaust. Ergebnisse und neue Fragen der Forschung
Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2015
http://www.fischerverlage.de/media/fs/308/LP_978-3-596-03279-2.pdf
[2] Eric Hobsbawm
Das Zeitalter der Extreme: Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts
dtv, München 2009, ISBN 9783423247696, Taschenbuch
https://www.perlentaucher.de/autor/eric-hobsbawm.html
[3] Ulrich Herbert
Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft. 1903 – 1989.“
Dietz Verlag, Bonn 1996
[4] Karl Jaspers
Wohin treibt die Bundesrepublik? Tatsachen – Gefahren – Chance
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46266482.html
https://www.uni-muenster.de/Ejournals/index.php/jcsw/article/viewFile/900/847
[5] Bruno Snell
Die Entdeckung des Geistes
Studien zur Entstehung deseuropäischen Denkens bei den Griechen
http://www.v-r.de/pdf/titel_leseprobe/1007728/978-3-647-25731-0.pdf
http://de.wikipedia.org/wiki/Bruno_Snell
[6] Christian Pross
Wiedergutmachung. Der Kleinkrieg gegen die Opfer
(hrsg.; Hamburger Institut für Sozialforschung Ffm 1988)
[7] Norbert Frei et. al.:
Die Praxis der Wiedergutmachung, Geschichte, Erfahrung und Wirkung in Deutschland und Israel
Wallstein Verlag, Göttingen 2009
http://www.wallstein-verlag.de/9783835301689-die-praxis-der-wiedergutmachung.html
[8] Götz Aly
Volk ohne Mitte
Die Deutschen zwischen Freiheitsangst und Kollektivismus
S.Fischer Verlag GmbH, Frankfurt/M 2015
http://www.fischerverlage.de/media/fs/308/LP_978-3-10-000427-7.pdf
[9] Karl-Heinz Roth
Griechenland am Abgrund. Die deutsche Kriegsschuld
VSA, Hamburg 2015.
http://www.vsa-verlag.de/nc/buecher/detail/artikel/griechenland-am-abgrundbr-die-deutsche-reparationsschuld/