Ein Gastbeitrag von Wolf-Dieter Narr
Die Überschrift ist widersprüchlich formuliert. Sie könnte jedenfalls missverstanden werden. Sie zu klären, könnte dazu beitragen, das, was unter Menschenrechten verstanden werden sollte, möglichst so einzukreisen, sie nicht wie einen Honigtopf voll edler „Rechte“ zu missbrauchen. Werden die Menschenrechte nicht genauer bestimmt, kann zu jedem Zweck in den süßen Topf hineingegriffen werden. Auf dass, wenn schon nicht das eigene Handeln, so doch sein erster Geschmack versüßt werde.
Ich will mich weithin an die Wortfolge der Überschrift halten. Offen enden werde ich mit einer zusammenfassenden Behauptung. Offen bleibt sie, weil d e r Menschen „Rechte“ im Sinne von allen Menschen eignenden Bedürfnissen und Erfordernissen nie abschließend, also eindeutig und endgültig bestimmt und angewandt werden können. Das heißt zugleich, was zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten menschenrechtlich geboten wäre – und meist mehr oder minder verfehlt wird, ist immer erneut herauszufinden. Es wird je und je umkämpft bleiben. Auf das im Vorsatz formulierte Mehr oder Minder und alle seine Zwischenstufen kommt es für lebenden Menschen entscheidend an. Schon an dieser Stelle lässt sich, zuerst verneinend, eine verbindlich allgemeine Eigenschaft der Menschenrechte festhalten: sie können nie und nirgendwo unter Menschen dazu herhalten, kollektiven Mord, sprich Kriege gegen andere Menschengruppen zu rechtfertigen. Gleiches gilt für den Mord an Personen. Strafrechte, die solches zulassen, sind zuerst menschen- und konsequent menschenrechtsfeindlich.
Zuerst: d i e Menschenrechte gibt es nicht. In dieser Hinsicht ist der Titel korrekt ausgedrückt. Nach den beiden Weltkriegen (1914-1918, 1939-1945) und nach dem humanen Grabenbruch durch die Nationalsozialistische Herrschaft, die genozidale Ausrottung der europäischen Juden und der Roma mitsamt den übrigen sowjetisch mitbetriebenen Völkervertreibungen mit den dabei billigend in Kauf genommenen Morden und den über 30 Millionen durch den Krieg Ermordeten, kamen zwei internationale Vereinbarungen zustande. Am 26. Juni 1945 kam es zur „Charta der Vereinten Nationen“. Obwohl unzureichend eingeschränkt, sind Kriege seither kein selbstverständliches Recht der Staaten mehr. Am 12. Dezember 1948 einigte sich die Generalversammlung der 1945 gegründeten Vereinten Nationen (UNO) in ihrer 217. Resolution darauf, in San Francisco eine „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ zu verkünden (ich habe die Ehre mit dem seinerzeitigen Vertreter Jugoslawiens, Vladimir Dedejer, gestorben 1990, befreundet gewesen zu sein).1
Seit dieser Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, denen alle Mitgliedstaaten der UNO 1948 beigepflichtet haben oder zum Zeitpunkt ihres UN-Beitritts automatisch zugestimmt haben, kann man begründet von einer „Katholizität“ der Menschenrechte mit einem bestimmten Artikel sprechen. Sie werden kat´ holen ten gen, sprich über nahezu die ganze bewohnte Erde anerkannt Allerdings gilt dies nur mit drei gravierenden Einschränkungen. Zum einen besagt die Anerkennung der Menschenrechtscharta nur eine deklamatorische Zustimmung. Die UNO hat nicht Macht, noch Mittel, ihre Mitgliedsstaaten dazu anzuhalten, die unterzeichneten Menschenrechte einzuhalten bzw. dafür zu sorgen, dass sie eingehalten werden. Allenfalls das, was mein Freund V. Dedejer, die Öffentliche Meinung der Welt genannt hat, vermag einen gewissen, zuweilen erfolgreichen Druck auszuüben, Das ist u. a. die Chance von Amnesty International. Zum zweiten: die Menschenrechtscharta mit dem kriegs- und vertreibungsbedingten Akzent auf einem universellen Asyl- und Aufenthaltsrecht, ist unbeschadet ihrer späteren sozialrechtlichen Ergänzung gemäß ihren Entstehungsbedingungen primär von einem „westlichen“, einem liberaldemokratischen und hintergründig kapitalistischen Verständnis individueller Menschenrechte bestimmt. Traditionen anderer Zeiten und Kontinente, die u. a. auf kollektive Rechte, auf Rechte der Tradition und verschiedene Konzeptionen der Allmende abheben sind weder 1948 berücksichtigt worden, noch wurden sie späterhin – soweit wie möglich – aufgenommen. Wer über ein wenig Phantasie und Kenntnisse über die Unterschiede, die Spannungen und Konflikte dieses nun von mächtigeren und weniger mächtigen kollektiven Konkurrenten umkämpften Globus entwickelt hat, mag sich vorstellen, dass es gegenwärtig fast ausgeschlossen wäre, zu einer neuen, mehr Aspekte und andere Normen umfassenden, und möglichst verbindlicheren Erklärung zu kommen. Von Weltgesellschaft und Weltstaat (alb-)träumen nur wolkige Gemüter. Die dritte allgemeine Einschränkung, in diesem Sinne kategorial, habe ich schon berührt. Gälten die Allgemeinen Menschenrechte als verbindliche Normen, müssten alle Staaten ihren Postulaten entsprechend verfasst werden, gleichviel ob mit oder ohne geschriebene Verfassung. Mehr noch: insbesondere die ökonomischen Produktionsverhältnisse müssten menschenrechtlich konform eingerichtet werden. Kurzum: die in allen Gesellschaften und ihren politischen Systemen gegebenen Verhältnisse der Ungleichheit, der Herrschaft, der Ausbeutung müssten, gewiss nicht in einem unmöglichen Ruck, allmählich revolutioniert, sprich nachhaltig umgewälzt werden. So lange dies nicht geschieht, so sehr man es wünschen mag, ja menschenrechtlich um der Emanzipation aller Menschen überall willen wünschen muss, so lange klafft, immer mit schmerzlichen, nicht selten mit tödlichen Folgen – man denke an die Kinder die täglich, monatlich, jährlich Hungers sterben – eine jäher Spalt zwischen menschenrechtlicher Verheißung und Wirklichkeit.
Abstrakte Menschenrechte ohne Freiheit und Gleichheit. Als allgemeine Maxime lässt sich über die Menschenrechte hinaus formulieren: alles, was ich normativ im Sinne von ich soll als eine Art Richtlinie anerkenne – weiter als du sollst, wir sollen, ihr sollt, sie sollen -, hat nur einen mehr als geschwätzig täuschenden Sinn, vornehmer kann man in „symbolisch“ nennen, wenn das wie immer begründete Postulat mit den Bedingungen und Instrumenten versehen wird, ihm gerecht zu werden. Um ein gegenwärtiges, alles andere als abseitiges Beispiel illustrativ anzuführen: wer Doping im Sport und anderen Bereichen der sog. Leistungsgesellschaft gründlich vermeiden will, nicht nur individuell und isoliert als Moraltrompeter mit eigenem Gehörschaden, der muss zum einen Ziele vorgeben und immer erneut diskutieren, die ohne Leistung steigernde Mittel „normal“ erreichbar sind. Der oder die, die da „leisten“ sollen – meist sind es wie in der BRD national (und ökonomisch) ehrgeizige Institutionen -, sind so mit Zielen und Mitteln auszustatten, dass „die Leistungen“ keine extremen Anstrengungen verlangen. Also kommen eine Reihe von Zielen nicht in Frage. Sie sind vielmehr mit maßvollen Anstrengungen und Kosten zu setzen und zu sozialisieren. Abstrahieren, lateinisch, meint absehen von Besonderheiten, sogar der Besonderheiten berauben. Menschenrechte werden zu solchen erst, wenn sie zum einen mit den Formen, den Mitteln und Möglichkeiten, sie umzusetzen, versehen werden. Sie blieben aber auch im gerade angegeben Sinn schlecht abstrakt, deutsch abgehoben, wenn nicht genauer bestimmt wird, was z. Bsp. unter Freiheit verstanden wird. Kriterien, Gesichtspunkte, Probiersteine, die sie kennzeichnen und gesellschaftlich vermitteln, sind ausfindig zu machen. „Probiersteine“ sind übrigens ein Lieblingsausdruck Kants. Seine Normen bleiben zuweilen viel zu abstrakt und viel zu allgemein. Sie stellen sozusagen eine Philosophie „von oben“ dar. Es genügt jedenfalls nicht, „Freiheit, die ich meine“, zu singen, „ die mein Herz erfüllt…“ zu singen. Sobald man aber ´Freiheit´ auf dem Boden dieser Erde selbst im Kontext ihrer virtuellen Mittel sagt, muss man, ohne pathetisch leer zu schwätzen, wenigstens drei Aspekte genauer verfolgen: zum einen, wie steht´s für das materieabhängige menschliche Wesen – Luther sprach grob, aber deutlich vom Madensack _ mit seinen materiellen Lebensmitteln. Der Mensch lebt gewiss nicht vom Brot allein. Er bedarf des Brotes aber an erster Stelle. Zum zweiten stellt sich die Frage: wie weit kann ich mich selbst bestimmen, das heißt vor allem, wie kann ich mitbestimmen. Menschen sind au fond soziale Wesen, selbst dort, wo sie´s liberal verleugnen, um ihr ungleiches Privileg zu rechtfertigen. Damit sind erneut, innig mit dem Vorhergehenden verbunden, die Herrschaftsfrage und in ihr die strukturelle und funktionelle Ungleichheit verbunden. Menschenrechtlich genau, auch in Sachen menschliche Sozialisation und menschliches Selbstbewusstsein verstanden, besteht die große, nie ganz bewältigbare, aber immer erneut zu erfrischende Aufgabe darin, Herrschaft, wo immer sie sich machtvoll regt und sklerotische Struktur zu entwickeln strebt, abzubauen und abzubauen und erneut abzubauen.
Bald ein Leben lang müde unermüdlich schreibe ich im Kontext von Menschenrechten und werkele in und mir ihnen, soweit ich beschränkt kann. Menschenrechtlich stimmt Erich Kästners Motto unverkürzt: es gibt nichts Gutes, es sei denn man tut es. Dennoch überkommt mich allemal, säkukar, ein pfingstlicher Geist, so ich´s tue. Menschen sind heutzutage aus angebbaren Gründen gesamtgesellschaftlich menschenrechtlich nicht konformen Bedingungen mehr denn je unterworfen. Sie werden, nicht durch individuell erklärbare „Gier“, von einer „systemisch“ wie monoman wirkenden „Begierde zum Haben und auch zum Herrschen“ (Kant) getrieben. Und doch gibt es dauernd und überall aufmüpfige, oft versagende, dennoch wiederkommende Bewegungen gerade Junger, sich herrschaftliche Verfilzungen nicht weiter gefallen zu lassen. Sich gegen den schlimmsten auch und gerade in Europa und der pseudoedlen BRD dauernd geschehenden Diebstahl an ihrem eigenen Leben zu kehren, seiner Freiheit in der notwendigen gleichen Ungleichheit mit anderen. Menschliche Freiheit ist nur in weltweiten Parallelgesellschaften möglich. Dort gäbe es keine „Verdammten der Erde“ mehr (Frantz Fanon hatte die bis heute nachleidenden, im Leiden teilweise erneuerten kolonisierten Bevölkerungen im Sinn). Dort duldete man nicht von Frontex billigend in Kauf genommene Ersäufte. Man sorgte dafür, dass es keine große Anzahl von Menschen gäbe, die – mit Hannah Arendt gesprochen -, kein Recht haben, Rechte zu haben.