Ein Gastbeitrag von Julia Reda
Wie keine andere Partei verkörpern die Piraten das, was dem Internet zu seinem Erfolg verholfen hat – das Prinzip der Grenzenlosigkeit. Der Abbau von Grenzen ist auch der Kern der Europäischen Union. In einer Zeit, in der die Politik globalen Herausforderungen mit Abschottung begegnet, kann die Piratenpartei die europäische Idee mit neuem Leben füllen. Dazu muss sie sich trauen, in allen Politikfeldern Grenzen zu überwinden.
Der durch Edward Snowden aufgedeckte globale Überwachungsskandal ist ein Produkt nationalen Denkens. In Folge von 9/11 instrumentalisierten Regierungen die Angst vor Terrorismus für die Ausweitung geheimdienstlicher Befugnisse. Verkauft wurden sie als Schutz der Bevölkerung vor dem Fremden, wobei der rege Datenaustausch es den Geheimdiensten ermöglicht, auch die eigene Bevölkerung zu überwachen. Obwohl uns nationale Abschottung und Aufrüstung der Geheimdienste in die flächendeckende Überwachung geführt haben, wird uns nun die gleiche Denkweise als Lösung verkauft: Ein Deutschlandnetz soll vor “ausländischen Geheimdiensten” schützen, dabei wird die Überwachung durch den deutschen Bundesnachrichtendienst unter den Teppich gekehrt. Amerikanische Konzerne werden für mangelnden Datenschutz verantwortlich gemacht, dabei ist es gerade das Wirrwarr nationaler Datenschutzgesetze, die es diesen Firmen ermöglichen, sich effektiver Kontrolle zu entziehen. Wir Piraten haben verstanden, dass wir das Internet nicht verteidigen, indem wir es weniger international und vernetzt machen.
Die gleiche begrenzte Logik erleben wir in der Wirtschaftspolitik: Die Niedriglohnpolitik, die den deutschen Exportüberschuss erzeugt, trägt maßgeblich zu den wirtschaftlichen Problemen in Südeuropa bei, wird uns aber als nationales Interesse verkauft. Den Vogel schießt Alexander Kissler im Cicero ab, http://www.cicero.de/salon/deutschlands-ansehen-der-welt-sie-hassen-uns-wieder/56435 der meint, Völkerverständigung führe zu Hass und die richtige Antwort auf berechtigte Kritik an der deutschen Regierung sei mehr nationaler Egoismus. Das Problem der überschuldeten Staaten liege darin, nicht genauso zu wirtschaften wie Deutschland – dabei wäre ein Exportüberschuss ohne die Importüberschüsse anderer Staaten gar nicht möglich. Tatsächlich sind steigende Löhne natürlich im Interesse der Menschen in Deutschland und würden gleichzeitig der gesamten europäischen Wirtschaft helfen, bloß für deutsche Unternehmen wären sie unangenehm. Was uns als Konflikt zwischen „uns Deutschen“ und „den anderen“ verkauft wird, ist also tatsächlich ein Konflikt zwischen deutscher Wirtschaft und europäischer Bevölkerung – die deutsche Bevölkerung eingeschlossen. Wieder einmal ist das Pochen auf nationale Interessen ein Holzweg, der nur scheinbar im Interesse der hier lebenden Menschen ist, tatsächlich aber einer für alle gerechten Lösung im Weg steht.
Globale Herausforderungen verlangen nach globalen Lösungen
Ob Datenschutz, Wirtschaftspolitik oder Umweltschutz: Der erste notwendige Schritt zur Lösung globaler Probleme ist die europäische Zusammenarbeit. Indem wir die Überwindung von Grenzen zum zentralen Motiv unseres Europawahlkampfs machen, zeigen wir den Menschen, wofür wir einstehen. Statt Ängste zu schüren, können wir vermitteln, wie ein Europa ohne Grenzen den Weg in eine lebenswerte Zukunft weisen kann. Dieser „orangene Faden“ http://www.zeit.de/politik/deutschland/2013-11/Piratenpartei-Nocun-Rueckzug-Geld hat im Bundestagswahlkampf gefehlt. Für die Europawahl wünsche ich mir deshalb ein knappes, progressives Wahlprogramm (hier ein Vorschlag dazu, den ich gemeinsam mit anderen Piraten erarbeitet habe) http://wiki.piratenpartei.de/Antrag:Bundesparteitag_2013.2/Antragsportal/WP015 und eine darauf abgestimmte Kampagne, die die Überwindung von Grenzen auf allen Ebenen in den Vordergrund rückt.
Wo wollen Piraten Grenzen einreißen? Klar, im Internet. Noch immer sind Youtube-Videos, Streamingportale und andere innovative Dienste „in deinem Land nicht verfügbar“. Noch immer gibt es riesige Lücken in der Breitbandversorgung, vor allem auf dem Land. Noch immer wird öffentlich gefördertes Wissen hinter Paywalls versteckt. Und zunehmend ziehen Internetzugangsprovider durch Verletzungen der Netzneutralität Grenzen zwischen Onlinedienste und ihre Nutzer*innen. All diese Themen werden in der nächsten Legislaturperiode im Europaparlament auf der Tagesordnung stehen. Es braucht uns Piraten, um grenzenlose Kommunikation und kulturellen Austausch über das Internet für alle möglich zu machen.
Doch Grenzen stehen Europa nicht nur virtuell im Weg: Bei jeder sich bietenden Gelegenheit, z.B. bei großen Sportereignissen, weichen nationale Regierungen von der Offenheit der Grenzen im Schengen-Raum ab und führen Grenzkontrollen wieder ein. Die Begegnungen der Menschen und die Reisefreiheit sind aber elementar dafür, dass wir in Europa zu einer solidarischen Gemeinschaft zusammenwachsen. Mit dem kürzlich vom Europaparlament abgesegneten Projekt EUROSUR http://www.piratenpartei.de/2013/10/09/grenzueberwachung-eurosur-rettet-keine-fluechtlinge-sondern-treibt-sie-zurueck-in-not/ schreitet die Abschottung der EU nach außen voran, während weiter Menschen im Mittelmeer ertrinken, die auf der Flucht vor Krieg und Verfolgung ihr Recht auf Asyl in Europa geltend machen wollen. Das können wir nicht länger hinnehmen. Der Abbau von Grenzen ist ein Gebot der Menschlichkeit.
Europa ist eine Brückentechnologie
Der Rückzug in Nationalstaaten, der aktuell überall zu beobachten ist, ist nicht zuletzt Ausdruck von Angst und Einfallslosigkeit. Anstatt neuen Problemen mit neuen, gemeinsamen Lösungen zu begegnen, versuchen die Regierungen sich hinter ihren Grenzen zu verstecken. So kommen sie aus einer rein reagierenden Politik nicht heraus, es fehlen Mut und Offenheit für neue Projekte. Dabei braucht Europa Investitionen in die Zukunft: nicht nur, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln, sondern auch um uns die Zuversicht zurückzugeben, dass es eine lebenswerte Zukunft gibt und wir diese gestalten können.
Ich rufe die Piraten auf, den Mut zu Visionen zu haben. Setzen wir uns das Ziel, auch die Grenzen nach oben zu überwinden! Lasst uns das Gemeinschaftsprojekt Europäische Raumfahrt vorantreiben und den ersten Weltraumaufzug http://raumzeit-podcast.de/2013/07/05/rz054-space-elevator/ entwickeln! Das klingt vielleicht nach Science Fiction, aber Science Fiction ist schließlich mehr als nur Actionfilme im Weltraum. http://tante.cc/2013/11/09/incompetent-humans-space-sad-state-scifi/ Science Fiction ermöglicht es uns, die Probleme, die auf uns zukommen, losgelöst von den (Ihr ahntet es schon) Grenzen unserer jetzigen Situation mit all ihren Sachzwängen zu betrachten. Der Weltraumaufzug kann uns den direkten Zugang zum All ermöglichen. Damit würden nicht nur Grenzen für unzählige wichtige Forschungsprojekte fallen, sondern auch Grenzen in unseren Köpfen. Denn auf diesem kleinen Planeten gibt es Menschen, die genug davon haben, sich in ihren winzigen Nationalstaaten einzumauern und die aufbrechen zu erkunden, was es da draußen sonst noch gibt.