Ukrainekrise 2014 und Julikrise 1914
Ukrainekrise 2014 und Julikrise 1914

Ukrainekrise 2014 und Julikrise 1914

Ein Gastbeitrag von Matthias Krämer

Übereinstimmungen lassen sich nicht leugnen – leider auch nicht in der Berichterstattung der Massenmedien. Die Marschrichtungen ähneln sich.

“Sicherheitspolitiker warnen vor Krieg aus Versehen”, berichtet Spiegel Online. Das muss uns an einen Krieg erinnern, der die Welt vor 100 Jahren “aus Versehen” in ein Jahrhundert der industrialisierten Gewalt stürzte.

Vor der Haustür einer Großmacht gibt es einen kleinen, aber souveränen Staat an einer strategisch wichtigen Position. Da geht es um Militärstützpunkte, Zugang zum Meer und Handelswege. Zwischen den beiden Staaten gibt es Nationalitätenprobleme, das heißt, ein Teil der Bewohner des einen Staats identifiziert sich etwa über die Muttersprache als dem anderen Staat zugehörig. Das führt zu Konflikten, denn die “ethnische” Zuordnung macht diese Bevölkerungsgruppe zu Irredenta, italienisch für Unerlöste, die angeblich im anderen Staat besser aufgehoben wären.

Prinzipiell gibt es zwei Strategien zur Problembehandlung, die für die Konfliktparteien naheliegen: Entweder der eine Staat tritt das Territorium ab, das von den Irredenta des anderen Staats bewohnt wird, oder der eine Staat weist die Irredenta des anderen Staates aus. Letzteres nennt man heute wohl “ethnische Säuberung”, früher sagte man “Vertreibung” oder auch mal “Bevölkerungsaustausch”. Das ist eine Art von Zwangsmigration und für die Betroffenen schrecklich. Es ist weitgehend als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt, also greifen Staaten ungern zu diesem Mittel.

Doch auch die erste Strategie, die Grenzverschiebung, bringt keine Lösung des Problems: Abgesehen davon, dass Staaten ungern Territorium abtreten, ist die Situation anschließend im Prinzip identisch. Die Irredenta des einen Staats leben nun im anderen, da es so etwas wie geschlossene Siedlungsgebiete allenfalls in der Phantasie von Raumplanern und Politikern gibt. In dieser paradoxen Situation versagen häufig Recht und Gewissen, die Akteure eskalieren die Gewalt, weil sie sich keine Alternative vorstellen können und “ethnische Säuberungen” schließlich als “humanste” Lösung ansehen.

Die Eskalation der Gewalt wird von der “Weltgemeinschaft” immer sehr bedauert und häufig auch verurteilt. Andererseits ist man froh, wenn sich der Konflikt zwischen zwei Staaten lokalisieren lässt und nur die Menschen dort quälen und morden, leiden und sterben. Denn wenn man das Blickfeld ausweitet, dann gibt es nicht nur eine Großmacht und einen kleineren Nachbarstaat, sondern es gibt noch viele weitere Staaten in der Nähe, und wahrscheinlich auch noch weitere Großmächte.

Wenn nun eine zweite Großmacht sich an das Nachbarland der ersten angenähert hat, gute Beziehungen pflegt, vielleicht das eine oder andere Abkommen schließt, dann verkompliziert das die Situation. Es geht dann auch um “Einflusssphären”: Das sind imaginäre Machtbereiche, in denen man sich in der Lage fühlt, etwas zu tun oder andere daran zu hindern. Und weil diese Sphären so imaginär sind und man nie vorher weiß, ob man dort etwas Bestimmtes tun oder andere daran hindern kann, überlappen sie sich häufig. Das kommt auch daher, dass nicht nur Massenmedien, sondern auch Politiker und sogar ganz einfache Leute sich einreden, die “Einflusssphäre” der eigenen Großmacht sei groß, sicher und sogar legitim.

Die überlappenden Machtbereiche von Großmächten haben einen wichtigen Effekt: Die eine Großmacht hat in einem Gebiet, das die andere zu ihrem Einflussbereich zählt, keine freie Hand. Denn das Verhältnis gestaltet sich prinzipiell so: Greift die eine Großmacht das Nachbarland an, erklärt die zweite Großmacht der ersten den Krieg – und umgekehrt.

Und Großmächte heißen auch deshalb so, weil niemand – auch andere Großmächte nicht – gewiss sein kann, in einem Krieg gegen sie zu gewinnen. Beide Großmächte versuchen also, den potentiellen Krieg, der sich aus der Überlappung ihrer Einflussbereiche ergibt, nach Möglichkeit zu vermeiden. Dazu stärken sie ihre jeweilige Position in ihrem Einflussbereich auf andere Weisen, und dabei entstehen allzu oft Konstellationen, in denen innere Konflikte gewaltsam aufbrechen, aber lokal beschränkt, ohne direkte Konfrontation der Großmächte.

Krisenstrukturen

Man könnte meinen, bei dem Beschriebenen handle es sich um eine Abstraktion der aktuellen Ukrainekrise aus einer geostrategischen Perspektive. Das kann man so sehen, aber eigentlich ist das Obige der Julikrise 1914 nachempfunden.

Serbische Irredenta, die das Attentat von Sarajevo am 28. Juni 1914 verantworteten, waren damals der Anlass für einen Konflikt zwischen den Großmächten Österreich-Ungarn und Russland, gewachsen in der gemeinsamen “Einflusssphäre” auf dem Balkan. Die übrigen Großmächte, die ihren Verbündeten in der Julikrise stets den Rücken stärkten, unternahmen zwar einige Versuche zur Lokalisierung des Konflikts, doch das europäische Bündnissystem und die in der Konfrontation mit Serbien von Österreich-Ungarn erzwungene Alternative Demütigung oder Krieg trieben Europa sehenden Auges in den Abgrund, die “Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts”.

Dass die Großmächte, an der Klippe des Weltkriegs angekommen, auch sprangen, hängt nicht zuletzt mit der Überzeugung der Akteure zusammen, dass eine Großmacht immer bereit sein müsse, für ihre Interessen Krieg zu führen. Wer an der Klippe stand und vor dem “Sprung ins Dunkle” zurückschreckte, dem drohte der Verlust der Ehre, und zwar der persönlichen Ehre als Staatsmann und der nationalen Ehre als Großmacht. Insbesondere Österreich-Ungarn drohte der Verlust des Großmachtstatus und schließlich der Zerfall, den man durch Kriegserfolge aufhalten wollte und durch den Ersten Weltkrieg erst herbeiführte.

Der befürchtete Untergang als Großmacht ist ein weiteres zentrales Element der Julikrise, das in der Ukraine wieder auftaucht.

Lange vor 1914 war der Untergang des Osmanischen Reiches offensichtlich, und Österreich-Ungarn galt als nächster Kandidat, als “kranker Mann an der Donau”, rückständig, dekadent, kraftlos, als Vielvölkerstaat stets vom Zerfall bedroht. Im weitaus stärker industrialisierten, dynamischeren Deutschen Reich war die politische Elite überzeugt, dass die Doppelmonarchie dahinsieche. Deshalb drängte Berlin den engsten Verbündeten dazu, “den großserbischen Wühlereien auch mit dem Schwerte entgegenzutreten” und sich durch eine beherzte Aktion Luft zu verschaffen, die Zwangsläufigkeit des Schicksals mit übermenschlichem Willen – und militärischer Gewalt – zu durchbrechen.

Denn Deutschland sah sich von den übrigen Großmächten eingekreist, seine letzte Stütze im Südosten langsam dahinschwinden, während Russlands militärische und industrielle Schlagkraft stetig zu wachsen schien. Nicht von der Hand zu weisen ist der Eindruck, dass ein Jahrhundert später Russland in der Rolle der untergangsbedrohten Großmacht zu sehen ist, die ihre Kraft durch die notfalls militärische Zurechtweisung kleinerer Nachbarn zu demonstrieren wünscht, um nicht selbst zum Klientelstaat dynamischerer Mächte herabzusinken. Zu Wladimir Putins Programm gehörte es nicht zuletzt, das Selbstvertrauen der Russischen Föderation wieder herzustellen, das seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und besonders in den letzten Jahren der Präsidentschaft Boris Jelzins gelitten hatte.

Anerkennung als Großmacht bedeutete im 19. Jahrhundert Mitgliedschaft im Konzert der Mächte oder in der europäischen Pentarchie. Heute entspricht dem wohl am ehesten die Zugehörigkeit zur Gruppe der Sieben (G7), und bezeichnenderweise haben die sieben mächtigsten Industrienationen im März 2014 Russland aus ihrem Konzert ausgeschlossen.

So ein Krieg ist doch heute unmöglich – oder?

Nun könnte man meinen, die Geschichte müsse sich wiederholen und es stehe ein Weltkrieg bevor. Zum Glück verhalten sich aber heute viele Dinge anders als vor hundert Jahren.

Internationale Institutionen sind einigermaßen etabliert, die Vereinten Nationen sind nur eine von ihnen. Damit einher gehen Verfahren der Konfliktbewältigung, die 1914 allenfalls in den Kinderschuhen steckten. Und die Strategie der Lokalisierung von Konflikten, auf die 1914 insbesondere Reichskanzler Bethmann Hollweg erfolglos gesetzt hatte, wurde im Kalten Krieg geradezu perfektioniert: Stellvertreterkriege nannte man solche lokalisierten Konflikte unter den speziellen Bedingungen der Blockkonfrontation, in denen ein offener Krieg der atomar hochgerüsteten Machtblöcke gegeneinander die Entvölkerung der Welt bedeutet hätte.

Stellvertreterkriege erfordern, dass lokale Kriegsparteien gebildet werden, um an Stelle der Großmächte den Konflikt auszutragen. Rekrutierung, Ausbildung, Ausrüstung, Finanzierung und sonstige Unterstützung von lokalen Truppen macht diese zu Stellvertretern. Diese Tätigkeiten versucht man geheim zu halten oder bei Entdeckung zu leugnen, selbst wenn sie offensichtlich sind. Auf diesem Weg vermeidet man weiter die Konfrontation zwischen Großmächten. Die lokalen Kämpfer haben daher regelmäßig den Charakter irregulärer Truppen, irgendwo zwischen Rebellenarmeen und Terroristen, nur dass sie inoffiziell als Stellvertreter einer Großmacht fungieren. Solche Stellvertreterkonzepte waren 1914 noch nicht entwickelt, so dass das Deutsche Reich dem Russischen am 1. August nicht zuletzt deshalb den Krieg erklärte, weil die Lokalisierungsversuche gescheitert waren.

Doch auch, wenn alles anders ist, lohnt die Beschäftigung mit der Julikrise ein Jahrhundert danach – vielleicht mehr denn je.

In Deutschland war das Nachdenken über die Julikrise allzu lange überschattet von der “Kriegsschuldfrage”. Mit ihr wurden die verschiedensten “nationalen” Interessen- und Gemütslagen verknüpft, bis hin zum apologetischen Argument, der Versailler Vertrag mit seinem “Kriegsschuld-Artikel 231” gehöre zu den Hauptursachen für den Aufstieg Hitlers, und da die Sieger des Ersten Weltkriegs Deutschland ungerechtfertigt die Kriegsschuld aufgebürdet hätten, seien sie auch schuld an Hitler.

Da seit dem 3. Oktober 2010 die letzten auf Versailles zurückgehenden Reparationen bezahlt sind, hätte das Erscheinen von Christopher Clarks Buch “Die Schlafwandler” 2012 es erlaubt, gewissermaßen unbelastet von der deutschen “Kriegsschuldfrage” die Julikrise zu diskutieren. Doch weit gefehlt, wie Andreas Wirsching jüngst die dominierende Clark-Rezeption in der massenmedialen Debatte zusammenfasst:

“Die entsprechende Argumentationskette lautet: Am Ausbruch des Ersten Weltkrieg trugen die Deutschen – wie ja nun endlich erwiesen ist – keine besondere Schuld und keine Hauptverantwortung. Das gibt den Deutschen heute das moralische Recht, sich gegen eine europäische Integration zu stemmen, von der man glaubt, sie laufe den deutschen Interessen zuwider.”

Historiker stehen solchen Denkmustern staunend und häufig ratlos gegenüber. Wirsching favorisiert zur Erklärung kollektivpsychologische Phänomene auf Seiten der Rezipienten – und noch stärker wohl auf Seiten der massenmedialen Multiplikatoren:

“Warum aber erweist sich ein solches wissenschaftliches Attest für das deutsche Publikum gerade heute als so attraktiv? Man wird nicht fehlgehen, die Antwort in der gegenwärtigen, politisch und ökonomisch durchaus prekären Situation zu suchen. Statusunsicherheit und Bedrohungsangst – die typischen Ingredienzien (klein-)bürgerlicher Mentalität im Kaiserreich – feiern irritierende Urständ in Deutschland. Die Euro-Krise hat es möglich gemacht.”

Gegenwart der Geschichte

Die “Kriegsschuldfrage”, auch in ihrer seriösen Form der Untersuchung persönlicher Verantwortlichkeiten, ist stets grundiert von der Gegenwartsperspektive und den entsprechenden Diskursen und Interessen, die sich in ihrer Diskussion niederschlagen. Der bedrückendste Aspekt des von Wirsching beschriebenen Topos, dass es keine besondere aus der Geschichte erwachsene Verantwortung der Deutschen für ein friedliches, einiges Europa gäbe, ist aus meiner Sicht nicht, dass sich damit eine deutsche Anti-EU-Politik untermalen lässt, für die es im wirtschaftlich von der EU profitierenden Deutschland ohnehin keine Mehrheit gibt.

Viel bedrückender finde ich die Botschaft, die in der Diskussion zu Clarks Schlafwandlern regelmäßig unwidersprochen bleibt, dass die Verantwortlichkeit für den Ersten Weltkrieg – oder irgendeinen anderen Krieg – in der Komplexität der diplomatischen Krise so weit diffundiert, dass sie nicht mehr zu erkennen, vielleicht gar nicht mehr vorhanden ist. Doch das ist in jeder Hinsicht falsch. Clark schreibt im Fazit zu den “Schlafwandlern” 2012:

“Dass die Krise von 1914 außerordentlich komplex war, zählt zu den zentralen Aussagen dieser Studie. Zum Teil war diese Komplexität auf Verhaltensmuster zurückzuführen, die noch heute auf der politischen Bühne anzutreffen sind. Der letzte Teil dieses Buches wurde auf dem Höhepunkt der Finanzkrise in der Eurozone 2011/12 geschrieben – einem aktuellen Ereignis von atemberaubender Komplexität. Bemerkenswerterweise waren sich die Akteure in der Eurokrise, genau wie jene von 1914, der Tatsache bewusst, dass ein Ausgang im Bereich des Möglichen lag, der katastrophale Folgen haben würde (das Scheitern des Euro).

Alle wichtigen Protagonisten hofften, dass es nicht so weit kommen würde, aber neben diesem gemeinsamen Interesse hatten sie auch besondere – und widersprüchliche – eigene Interessen. In Anbetracht der Wechselwirkungen im ganzen System hingen die Konsequenzen jeder Maßnahme von den Reaktionen anderer ab, die wegen des undurchsichtigen Entscheidungsprozesses kaum im Voraus berechnet werden konnten. Und die ganze Zeit über nutzten die politischen Akteure während der Eurokrise die Möglichkeit einer allgemeinen Katastrophe aus, um sich bestimmte Vorteile zu verschaffen.”

Aus der Komplexität der Krise lässt sich aber kein Verschwinden der Verantwortlichkeit ableiten – nicht in der Julikrise, nicht in der Finanzkrise, und auch nicht in der Ukrainekrise.

Dass die Krise für die Akteure nicht durchschaubar, ausrechenbar, die Folgen ihrer Aktionen nicht genau vorhersagbar sind, entlastet sie nicht. Wer Waffen an Separatisten liefert, ist mitverantwortlich für die gewaltsame Eskalation. Wer Boden-Luft-Raketensysteme einsetzt, ist verantwortlich für abgeschossene Passagierflugzeuge. Soweit können wir davon ausgehen, dass es in Russland und in der Ostukraine Verantwortliche für die Zuspitzung der Ukrainekrise durch den Abschuss von Flug MH17 gibt. Wer das genau ist, lässt sich durch politische und kriminalistische Untersuchungen ermitteln. Aber für die außenpolitische Debatte, die in den deutschen Massenmedien stattfinden müsste, jedoch von lautem Geschrei übertönt wird, ist das völlig uninteressant.

Wer ist wofür verantwortlich?

Seit dem 100. Jahrestag des Attentats von Sarajevo, des Terroranschlags, der den Ausgangspunkt der Julikrise 1914 und damit den Anlass für den Ersten Weltkrieg bildete, habe ich in einem Social-Media-Experiment die wichtigsten politisch-diplomatischen Dokumente in der Reihenfolge ihrer Entstehung vorgestellt.

Ein solches “Reentweetment” (zusammengesetzt aus Reenactment und Tweet) ist keine ganz neue Form der Geschichtsvermittlung. Die zahlreichen Beispiele haben sich durch ähnliche Projekte zum Beginn des Ersten Weltkriegs inzwischen vervielfacht. Im vorigen Jahr machte eine Aktion zu den Novemberpogromen 1938 unter dem Namen @9nov38 weit über die Grenzen des Kurznachrichtendienstes Twitter hinaus auf sich aufmerksam.

Meine Inspiration durch dieses Projekt kann ich nicht leugnen, aber das Konzept zu “Julikrise 1914 @EinJahrhundert” ist durch die Verarbeitungsweise von Quellen doch wesentlich anders: Die Präsentation von überwiegend diplomatischen Aktenstücken je 100 Jahre nach ihrer Entstehung erlaubte es zumindest mir, vielleicht aber auch einigen Lesern, die durch die Dokumente kommunizierten Informationen und Absichten zu rekonstruieren und nachzuverfolgen.

Die Frage von “Kriegsschuld” oder Verantwortlichkeit, die bereits die Entstehung vieler dieser Dokumente, jedenfalls aber ihre Quelleneditionen prägte, stellt sich auf dieser von über 500 Dokumenten gepflasterten Straße des Juli 1914 immer wieder so: Inwiefern bremst oder beschleunigt ein Dokument die Fahrt zum Kriegsbeginn, wo versuchen die Akteure Abzweigungen zu nehmen, die zu anderen Ausgängen führen würden, und warum bleibt die Politik der europäischen Großmächte letztlich auf das Reiseziel Erster Weltkrieg ausgerichtet?

Ab dem 17. Juli 2014 musste ich mit Entsetzen die Parallelen beobachten, die sich in der Ukrainekrise nach dem Abschuss von Flug MH17 auftaten. Hundert Jahre zuvor hatte ein erfahrener Diplomat gerade erläutert, wie man die öffentliche Meinung in einer internationalen Krise beeinflussen kann:

Der deutsche Botschafter in Rom, Hans von Flotow, erklärt dem Auswärtigen Amt den Umgang mit der Presse: http://ow.ly/i/6fVMt— Julikrise 1914 (@EinJahrhundert) 17. Juli 2014

Wie die Presse in der Julikrise agierte, und wie sie von den europäischen Regierungen auf unterschiedliche Weisen instrumentalisiert wurde, hat mich zusätzlich sensibilisiert für die Rolle von Massenmedien in der Ukrainekrise.

Wenn “Der Spiegel” hinter einem Titelblatt mit der Aufschrift “Stoppt Putin jetzt!” einen Leitartikel “Ende der Feigheit” überschreibt und darin anonym fordert, “Europa muss Putin für den Abschuss von Flug MH17 zur Rechenschaft ziehen”, dann fühle ich mich zuerst an Zeitungen erinnert, die 1914 zum Krieg gegen Serbien riefen, um den ermordeten Thronfolger Franz Ferdinand zu rächen. Die Frage, “Wer ist der Kriegstreiber?”, mit der “Der Spiegel” alle Verantwortung von sich weisen und auf den ausgemachten Bösewicht Putin schieben wollte, erscheint ob der naheliegenden Antwort allzu ironisch.

Wenn die Kriegspropagandisten sich dann damit zu rechtfertigen versuchen, dass ihre zielsichere Identifikation der Alleinschuldigen und ihre Forderungen “der veränderten Haltung der Bundesregierung” entsprechen, dann kann man sich nur noch ungläubig die Augen reiben, wenn man liest, dass das Auswärtige Amt 1914 anonyme Kommentare wie den folgenden in die Presse brachte:

Staatssekretär Jagow bringt eine die Regierungsposition andeutende Notiz in die “Norddeutsche Allgemeine Zeitung”: http://ow.ly/i/6hsFF— Julikrise 1914 (@EinJahrhundert) 19. Juli 2014

Mit solchen regierungsnahen Veröffentlichungen konnte man erstens die öffentliche Meinung prägen, zweitens im Ausland unter Verweis auf die öffentliche Meinung die eigene Politik rechtfertigen und drittens bei Bedarf einräumen, dass man selbst den betreffenden Kommentar formulierte, um fremden Regierungen dezent die deutsche Position mitzuteilen.

Dass “Der Spiegel” sich aus diesem Anlass in einem Shitstorm über die eigene Rolle in der Ukrainekrise wiederfand, in dem er als “Sturmgeschütz gegen Putin” identifiziert wurde, spricht dafür, dass das Publikum, anders als manche Kommunikationsstrategen glauben, erstens nicht dumm ist, zweitens keinen Krieg mit Putin will, und drittens nicht aus Moskau gesteuert wird.

Massenmedien: unmittelbar sichtbare Krisenakteure

Die Beispiele machen deutlich: Die Massenmedien sind Akteure in solchen Fällen, und wenn sich Krisen verschärfen, dann nutzen auch sie “die Möglichkeit einer allgemeinen Katastrophe aus, um sich bestimmte Vorteile zu verschaffen”, wie Clark schreibt.

Die Komplexität solcher Krisen erlaubt es den massenmedialen Akteuren nicht, ihre eigene Verantwortlichkeit zu leugnen. Und auf Serbien zu zeigen und die serbische Hetzpresse zum Schuldigen für die mediale Eskalation zu erklären – oder heute Russland und Putins Troll-Armee –, das entlastet höchstens Kindergartenkinder von der Verantwortung für das eigene Handeln. An und in deutsch- und englischsprachigen Massenmedien ist Derartiges täglich zu beobachten, und die Verlautbarungen von Politikern wirken tatkräftig daran mit.

Auch über den Abschuss von Flug MH17 hinaus wird Putins Russland in der Ukrainekrise so überwiegend als aggressives Reich des Bösen gezeichnet, dass selbst bedächtige öffentliche Intellektuelle wie der Philosoph Julian Nida-Rümelin sich Sorgen über die daraus möglicherweise folgende Eskalation machen:

“Der Vorwurf des Neo-Imperialismus klingt nach Kriegs-Propaganda, er ist geeignet, die Situation in der Ukraine militärisch eskalieren zu lassen, er ist ein deutliches Beispiel für double standards, für die ungleiche Bewertung von gleichartigen Fällen.

Wir sollten ihn nicht mehr erheben, schon deshalb, um nicht leichtfertig einer Eskalation der Ukrainekrise das Wort zu reden. Wohin eine solche, wenn auch ungewollte Eskalation führen kann, zeigt die Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges.”

Wir wissen, dass auch Putin Propaganda einsetzt und damit Teile des Publikums erfolgreich anspricht. Doch zu schlussfolgern, wenn Russen auf russische Propaganda reinfallen, sollten am besten Deutsche auf deutsche Propaganda, Amerikaner auf amerikanische oder einfach Westler auf westliche Propaganda reinfallen, wäre idiotisch.

1.Weltkrieg, britische Propaganda 1914
Britisches Propaganda Flugblatt, Oktober 1914, via Wikimedia Commons

Insofern sich Massenmedien bereits auf diese Logik einer Bekämpfung des Bösen mit medialen Mitteln eingelassen haben, obwohl alle wissen, dass man Regierungen und Geheimdiensten eine gehörige Portion Skepsis entgegenbringen sollte, wenn es um “Beweise” für die Untaten der anderen geht, insofern erhöhen Massenmedien die Kriegsbereitschaft oder bereiten die Öffentlichkeit sanft auf die bevorstehenden Entwicklungen vor, wie man das 1914 nannte.

Ob Leitmedien Wehrhaftigkeit und steigende Wehretats fordern, Verhandlungen für Schwäche erklären (außer wenn man “Gegner” mit überlegener Militärmacht erpressen kann), “Frieden” durch Aufrüstung erstreben wollen und ohnehin eine düstere, kriegerische Welt predigen (Süddeutsche) oder gleich mit Atombombenphantasien hantieren (Spiegel Online) – sie spiegeln Diskussionsprozesse wieder (verzerrt und übertrieben, wie wir hoffen müssen), die in Politik und Diplomatie unter Ausschluss der Öffentlichkeit ebenfalls stattfinden. Für die Julikrise 1914 sind diese Vorgänge aus allen Perspektiven dokumentiert.

Auch wenn wir nur hoffen können, dass die Ukrainekrise 2014 niemals so gut dokumentiert und untersucht werden muss wie die Julikrise: Die Verantwortlichen werden identifizierbar, und sie können ihre Verantwortung dann auch nicht mehr in Kindergartenmanier leugnen.

Zum Twitteraccount “Julikrise 1914 @EinJahrhundert” »

Quellenhinweis: Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht auf Carta. Wir danken Herrn Matthias Krämer und Carta für die Zustimmung zur Zweitverwendung.

4 Kommentare

  1. „Zwischen den beiden Staaten gibt es Nationalitätenprobleme, das heißt, ein Teil der Bewohner des einen Staats identifiziert sich etwa über die Muttersprache als dem anderen Staat zugehörig.“
    Das greift aus zwei Gründen zu kurz.
    Erstens ist der Konflikt schon alt, was sich im Begriff „kleinrussen“ für die Ukrainer ausdrückt, welchen die Russen bereits unter dem Zaren gern verwendeten.
    Zweitens waren bis 1990 diese Probleme obsolet, nach außen hin, durch die Zugehörigkeit zu der Sowjetunion.
    Die Russen in der Ostukraine sind keine irgendwie „ethnischen“ Russen im Sinne einer Bevölkerungsminderheit, sie sind einfach Russen.
    Was tun?
    Die Frage kommt fast zu spät.
    Nach der Verweigerung der ukrainischen Regierung einen Dialog mit den Separatisten aufzunehmen und der Warnung des „Westens“ an Putin, er möge sich ja nicht einmischen, soll Putin es nun richten – allerdings immer noch ohne die Separatisten wirklich an den Tisch zu holen.
    Das ist absurd.
    Ich glaube nicht an einen Krieg „aus Versehen“, wir haben einen veritablen Bürgerkrieg – ich glaube Politiker aus West und Ost sind der Meinung „fast 70 Jahre relativer Frieden in Europa sind genug“.

  2. Danke für den Kommentar!

    Ich glaube, dass Nationalitätenprobleme immer auf eine lange Geschichte verweisen können. Vielleicht verstehe ich deshalb nicht, was genau die „irgendwie ‚ethnischen‘ Russen“ von „einfach Russen“ unterscheidet.

    Nicht alle Politiker sind des Friedens überdrüssig. Aber einige ignorieren offenbar die Gefahren einer Eskalation. Ein paar interessante Überlegungen zu Putins Position enthält dieses aktuelle Interview. Das Framing durch die SpOn-Mitarbeiterin muss man dabei allerdings nach Möglichkeit ignorieren. In der Presse werden regelmäßig Gut-böse-Geschichten erzählt. Das ist leicht verständlich, aber einer Verhandlungslösung nicht zuträglich.

  3. Der Unterschied zwischen „irgendwie ethnischen Russen“ und einfach Russen besteht für mich darin, dass mit ersterem Begriff die russische Bevölkerung der Ostukraine auf den Status z.B. der „Wolgadeutschen“ gestellt wird. „Irgendwie ethnisch“ klingt nach lange her. Von 1917 (lässt man das Zarenreich außer Acht) bis in die 90er wurde dieses Gebiet aber bewusst „russifiziert“, weil es wirtschaftlich bedeutsam ist.
    Der „ethnische Konflikt“ resultiert m.E. nach daraus, dass einerseits die Russen in der Ostukraine sich deshalb eher der ehemaligen Sowjetunion und deren Nachfolger zugehörig fühlen und die „Restukraine“ diese russische Beölkerung als quasi Besatzer empfindet.
    Das hat mit Ethnie nichts zu tun – hier geht es um wirtschaftliche Belange, von beiden Seiten.
    Natürlich weiß ich, dass nicht alle Politiker Krieg wollen – der Eindruck aus meinem ersten Kommentar drängt sich mir aber auf – nicht nur bei Putin.
    Vielleicht ist es aber so, dass die Regierungen in Ost und West endlich mal wieder ein klar definiertes Feindbild für ihre Propaganda brauchen. Hat sich ja von 45 bis 90 bewährt.

  4. Danke für die Erläuterungen! Ich denke auch, dass „ethnische Konflikte“ in der Regel ein bloßer Vorwand sind, oder eine Art propagandistische Metapher für soziale Konflikte (wozu ich auch die von Ihnen angesprochenen wirtschaftlichen Belange zwischen Staaten zählen würde). Als ein Vorwand oder eine Metapher ähnlicher Art fungieren auch „konfessionelle Konflikte“, wenn man mal nach Nordirland schaut, oder historisch in die Frühe Neuzeit.
    Dass ein äußeres Feindbild für Politiker und Massenmedien sehr attraktiv ist, da stimme ich Ihnen zu.

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