Anarchismus
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Herrschaftsfreie Gesellschaft als Ideal: Ein Gespräch über den Anarchismus mit Dr. Bernd Drücke

Dr. Bernd Drücke ist Soziologe, Koordinationsredakteur der Monatszeitung Graswurzelrevolution und Anarchist. Er tritt für eine gewaltlose und herrschaftsfreie Gesellschaft ein. Wir sprechen über das Verständnis …

18. Peira-Matinée: Anarchie. Gelebte Utopie im 21. Jahrhundert

Ein Gespräch mit Dr. Bernd Drücke und Rainer Thiem am 8. November 2015 im Cum Laude, Humboldt-Universität zu Berlin.

Anarchie ist Chaos und Terror? Unsinn! Anarchie ist eine egalitäre, solidarische Gesellschaft ohne Chef und Staat. Anarchistinnen und Anarchisten wollen den freiheitlichen Sozialismus realisieren.
Die Vielfalt des Anarchismus auch in Deutschland lässt sich gut anhand seiner Mediengeschichte aufzeigen. In den letzten 150 Jahren sind unzählige schwarz-rote Sternschnuppen, aber auch langlebige und einflussreiche libertär-sozialistische Zeitschriften entstanden.
Seit 1968 gibt es in der Bundesrepublik einen „neuen Anarchismus“. Und auch in der DDR gab es eine anarchistisch inspirierte Bewegung.
Anhand von Anschauungsmaterial wird in die Geschichte und Gegenwart des Anarchismus und seiner Presse eingeführt, mögliche Perspektiven einer Gesellschaft ohne Chef und Staat werden zur Diskussion gestellt.

 

Ankündigung und Umsetzung der Kündigung eines taz-Abos
Hier übernommen, weil unser Matinée-Gast Dr. Bernd Drücke, die beabsichtigte Kündigung des Abos gleich zu Beginn der Matinée ankündigte. Nachfolgend die Korrespondenz mit der taz und der Kommentar, in dem die Gründe für die Kündigung dargelegt werden.

taz-Abokündigung und Leserbrief per Email
Date:    Fri, 27 Nov 2015 18:09:22 +0100
From:   „Dr. Bernd Drücke“

Sehr geehrte taz-Redaktion,

hiermit kündige ich ab sofort mein taz-Abo und entziehe Euch die Einzugsermächtigung für mein Konto bei der Sparkasse Münsterland Ost. Ich war (mit kurzen Unterbrechungen) seit 1986 Abonnent der taz. Dass Ihr aber nun auch fette Bundeswehrwerbung abdruckt, ist für mich der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Wenn Ihr wissen möchtet, warum ich mein taz-Abo kündige, lest bitte meinen hier angehängten Kommentar aus der Graswurzelrevolution, Monatszeitschrift für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft, Nr. 404 (Dezember 2015). Ich würde mich sehr über eine Stellungnahme von Euch und eine Dokumentation meines Kommentars in der taz (unter der RubrikLeserbriefe?) freuen.

Mit freundlichen Grüßen,
Dr. Bernd Drücke

Wes Lied ich sing, des Brot ich fress
Die taz ist ein anti-anarchistisches Organ der Militarisierung

Kommentar

Ich bin seit 1986 Abonnent der „tageszeitung“. Seitdem gab es immer wieder (verpasste) Gelegenheiten, mein Abo zu kündigen. Etwa als sich die taz 1999 zum Sprachrohr der Krieg führenden rot-grünen Bundesregierung gemacht hat.

Damals relativierte der grüne Bundesaußenminister Joseph Fischer unter dem Motto „Wir müssen ein zweites Auschwitz verhindern“ die Shoah, um auf so infame Weise den NATO-Angriffskrieg gegen die damalige Bundesrepublik Jugoslawien zu rechtfertigen. Das dritte Mal im 20. Jahrhundert bombardierten deutsche Bomber 1999 Belgrad und andere Städte in Jugoslawien. Und die taz betrieb als schrille Kriegstreiberstimme im Fischer-Korps Kriegspropaganda, mehr noch als die meisten anderen Zeitungen des Mainstream. Schließlich war es „ihre“ Regierung, die (als Teil der NATO) diesen ersten deutschen Angriffskrieg seit 1945 vom Zaun gebrochen hatte und propagandistische Unterstützung benötigte, um das grün-rote Wahlvolk auf Kriegskurs zu bringen. Seitdem hat sich die taz nicht wirklich gebessert. Wenn es um Kriegstreiberei geht, sitzt sie in den publizistischen Schützengräben oft weit vorne. Und da ist es nur logisch, dass sie jetzt auch ganzseitige Anzeigen der Bundeswehr abdruckt. In Abwandlung eines bekannten Spruches: „Wes Lied ich sowieso schon singe, des Brot kann ich auch fressen“.

Dass die taz auch bei der plumpen Gleichsetzung von Anarchie mit Terror und Chaos ganz weit vorne liegt, habe ich hier zuletzt im September 2015 in der GWR 401 beschrieben. Wie viele bürgerliche Medien ist sich die taz nicht zu blöd, immer wieder „die Anarchie“ als Schreckensbild zu verwenden. So auch, wenn sie über vermeintliche „Anarchie in Libyen“ (taz, 30.1.2015) schreibt oder behauptet: „In Burundi gab es noch nie einen wirklich funktionierenden Rechtsstaat. Doch seitdem Präsident Nkurunziza durch sein Bestreben nach einer illegalen dritten Amtszeit die Verfassung aus den Angeln gehoben hat, rutscht das Land in die Anarchie ab.“ (taz, 30.7.2015)

Nun hat sie den Vogel abgeschossen. Auf Seite 1 der taz vom 7./8. November 2015 brachte das Grünen-nahe Blatt unter der fetten Rubrik „DER STÄRKSTE SATZ“ folgendes Zitat des Historikers Timothy Snyder: „Hitler war kein Staatsmann oder Nationalist, sondern ein in rassistischen Kategorien denkender Anarchist.“

Wie bitte?!!!

In diesem kurzen Satz sind drei unglaubliche Lügen versammelt. Wer sich mit der Geschichte auch nur ein bisschen auskennt, weiß, dass Hitler ein extremer Staatsmann und Nationalist war. Wer sich ein bisschen besser auskennt, weiß, dass er die in den 1920er Jahren in Deutschland zeitweise aus über 150.000 AktivistInnen bestehende anarchistische Bewegung gehasst hat. Anarchistinnen und Anarchisten wurden von Hitlers Schergen verfolgt und vernichtet. Der Anarchist Erich Mühsam, der 1933 verhaftet und 1934 im KZ Oranienburg auf bestialische Weise von SS-Männern ermordet wurde, wird verhöhnt durch die Geschichtsverdrehung, die die taz da fett gedruckt auf ihrer Titelseite platziert hat. Widerlich! „Krieg ist Frieden“ – Orwell lässt grüßen!

Wer das zum Titelzitat gehörende journalistisch armselige Interview mit Timothy Snyder in der taz vom 7./8.11.2015 liest, wird erkennen, dass der „stärkste Satz“ keineswegs ein Ausrutscher war. Snyder ist ein Überzeugungstäter. Er nennt Hitlers Ideologie einen „ökologischen Anarchismus“ (!) und diffamiert so die gesamte anarchistische Bewegung, die in der NS-Zeit in Deutschland im wahrsten Sinne des Wortes ausradiert wurde. Es ist empörend, dass die taz nicht in der Lage ist, dies als das zu erkennen, was es ist: eine Verleumdung, ein Hohn auf alle anarchistischen Opfer des Nationalsozialismus. Und das druckt eine Zeitung, die einst als Alternativblatt auch von AnarchistInnen mitgegründet wurde. Bitter.

Ich frage mich, ob die taz-Redaktion und die taz-Interviewerinnen Tania Martini und Christiane Müller-Lobeck tatsächlich noch nie gehört haben, dass es der Staatsmann und Nationalist Hitler war, der auch den Anarchismus in Deutschland 1933 zerschlagen hat. Hitler wollte keine herrschaftsfreie, gewaltlose Gesellschaft. Er war kein Anarchist, sondern DER Vertreter der besonders grausamen deutschen Variante des Faschismus.

Die GWR-AutorInnen Isabel Lipthay und Martin Firgau haben ihr taz-Abo am 12.11.2015 gekündigt und das wie folgt begründet:

„…unter Protest kündigen wir hiermit ab sofort unser langjähriges Abo der taz.

Beim Lesen der heutigen Ausgabe sind wir nur bis Seite 7 gekommen. Eine ganzseitige Anzeige der Bundeswehr? Das geht wirklich zu weit! Mir wird schon schlecht, wenn ich die Werbekampagne zum 60. in der Stadt an (gefühlt) jeder zweiten Werbefläche ertragen muss. Das brauche ich nicht auch noch am Frühstückstisch. Und dann von einer Zeitung, die einmal aus der Bewegung entstanden ist und noch irgendwie den Anspruch hat, sich vom Mainstream zu unterscheiden. Die Bundeswehr wird für die Seite gut gezahlt haben. Der Imageverlust Eurerseits und sicher einige gekündigte Abos stehen dagegen.“

Daraufhin antwortete ihnen der taz-Anzeigenleiter Jan Kniggendorf: „Die Entscheidung, die taz als Werbemedium anzubieten (und damit Erlöse zu erzielen), ist schon vor vielen Jahren gefallen. Eine große Mehrheit unserer GenossInnen trägt diese Geschäftspraxis. (…) Der Anzeigenverkauf trägt etwa 10 % zum Gesamtumsatz bei und ist damit ein nicht ganz unwesentlicher Bestandteil unserer Finanzierung.

Die taz als Anzeigenmedium zu verkaufen ist mitunter eine sehr schwierige Aufgabe. Die taz hat die kleinste Leserschaft unter den überregionalen Tageszeitungen und ist deshalb für viele Werbetreibende einfach verzichtbar. So gesehen sind Anzeigen von Konzernen, großen Unternehmen oder eben auch von Bundesministerien für uns ein Erfolg. Die Kampagne vom Bundesministerium der Verteidigung wurde übrigens auch in anderen Tageszeitungen und Nachrichtenportalen (Spiegel Online, Zeit, Süddeutsche, Welt, FAZ…) geschaltet. So gesehen waren wir zumindest in diesem Fall im ‚relevant Set‘ des Tageszeitungsmix vertreten…“

Martin Firgaus Antwort: „Lieber Herr Kniggendorf, danke für Ihre ausführliche Antwort. Nun ist mir klar geworden, dass die Entscheidung der Abo-Kündigung genau richtig war. Sie freuen sich sichtlich, betrachten es als Erfolg, ein Bundesministerium als Anzeigenkunden gewonnen zu haben! Wie schön, mal im ‚relevant set‘ der Großen mitspielen zu dürfen!

Meiner Meinung nach sind Sie bei der falschen Zeitung. Oder wir eben … Natürlich ist es legitim, Anzeigen zu schalten und Anzeigen geben nicht die Meinung der Redaktion wieder. Aber irgendwo gibt es doch Grenzen, nicht wahr? Ich z.B. bin nicht bereit, für Papier zu bezahlen, auf dem die olivgrüne Werbung des Kriegsministeriums gedruckt ist. Wo ist Ihre Schmerzgrenze? Sichern Rüstungsfirmen nicht auch Arbeitsplätze? So wie Sie das angehen, kriegen Sie die sicher auch noch als Kunden …“Bravo, lieber Martin, bravo, liebe Isabel! Sorgen wir dafür, dass es der taz auch finanziell weh tut, weiterhin Kriegspropaganda zu drucken. Ich jedenfalls kündige jetzt endlich – nach 29 Jahren – mein taz-Abo.

Bernd Drücke

PS: In dieser GWR drucken wir übrigens ebenfalls „Bundeswehr-Werbung“ Siehe Gerhard Seyfrieds Fotomontage auf dieser Seite und die Findus-Zeichnung auf Seite 12.
Kommentar aus: Graswurzelrevolution Nr. 404, Dezember 2015, 44. Jahrgang, www.graswurzel.net <http://www.graswurzel.net>