Die Piratenpartei als Katalysator onlinebasierter Partizipationsinstrumente
Die Piratenpartei als Katalysator onlinebasierter Partizipationsinstrumente

Die Piratenpartei als Katalysator onlinebasierter Partizipationsinstrumente

Am 10. September 2006 gründete sich in der Berliner c-base die Piratenpartei Deutschland. Erstmalig in der Geschichte Deutschlands spielte sich die Vorbereitung einer Parteigründung vorwiegend im Internet unter den Augen der Öffentlichkeit ab. Das Neue an der Piratenpartei war und ist, dass sie neue, computerunterstützte Formen der Demokratie selbst anwendet und allgemein einfordert, um die Spaltung in Regierende und Regierte zu überwinden. Die Realisierung der Forderung ist keine Modifikation, sondern ein radikaler Bruch mit der repräsentativen Demokratie hin zur flüssigen Demokratie ( LiquidDemocracy). LiquidDemocracy soll in seiner vollendeten Variante feste Wahlperioden aufheben, sodass Wahlen jederzeit stattfinden können; sie soll den Bürgerinnen und Bürgern ermöglichen, gezielt über einzelne Gesetze anstatt nur über von den Parteien vermittelte „Komplettlösungen“ zu entscheiden, und sie soll ihnen die Möglichkeit verschaffen, sich an der Entstehung der Gesetzestexte zu beteiligen. Kernelement dieser Verflüssigung ist die Einführung von delegate voting, mit dem alle Bürgerinnen und Bürger immer wieder neu entscheiden können, ob sie in einer bestimmten Frage selbst abstimmen oder lieber einen Repräsentanten festlegen, der in dieser – aber eben auch nur in dieser – Frage für sie entscheidet.

Folgerichtig hat die Piratenpartei gleich zu Beginn zur internen Meinungsbildung und Meinungsfindung auf den Einsatz der Software LiquidFeedback gesetzt und hatte damit im Parteienspektrum Deutschlands lange Zeit ein Alleinstellungsmerkmal. Inzwischen haben die Pirat*innen schmerzhaft erfahren, dass die Weiterentwicklung der Demokratie mit Hilfe digitaler Tools einen langen Atmen braucht. Natürlich erweckten die Experimente der onlinebasierten Partizipation auch das Interesse der Wissenschaft in Form von Studien. Auch hier auf Peira wurden bereits einige Studien veröffentlicht.

Aktuell ist der Politologe Mario Datts dem Phänomen der Online-Partizipation am Beispiel der Piratenpartei Berlin nachgegangen. Dazu hat er die Mitglieder der Piratenpartei zu ihrem Nutzungsverhalten von LiquidFeedback, dem bekanntesten digitalen Mitbestimmungsinstrument der Partei, befragt. Das Ergebnis ist ernüchternd: Alles in allem erfüllt LiquidFeedback nicht die Hoffnungen, die mit der Einführung internetbasierter Partizipationsinstrumente verbunden werden. Vielmehr scheint das Gegenteil der Fall zu sein: bestehende Partizipationshürden aus der Offline-Welt gewinnen in der Online-Welt an Bedeutung.

Im Fokus der Untersuchung standen zwei Fragen: (1) Welche Faktoren beeinflussen die Partizipation am LiquidFeedback Berlin und (2) ist die Partizipation am LiquidFeedback Berlin niedrigschwelliger als die Partizipation an Landesmitgliederversammlungen? (*)

Um diese Fragen beantworten zu können, führte der Autor des vorliegenden Beitrags im Frühjahr 2014 eine Umfrage unter den Mitgliedern der Piratenpartei Berlin durch. Bei der Auswertung der Umfrage fiel zunächst auf, dass sich nur sehr wenige der befragten Mitglieder nicht für das LiquidFeedback registriert hatten. Nichtsdestotrotz stellte sich die Frage, warum sich einige Parteimitglieder gegen eine Registrierung entschlossen hatten. Bei näherer Betrachtung wurde deutlich, dass eine starke Parteibindung, also die emotionale Verbundenheit der Mitglieder mit ihrer Partei, einen signifikant positiven Einfluss auf die Registrierungswahrscheinlichkeit ausübte. Überraschenderweise verhielt es sich beim politischen Selbstvertrauen, also dem Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten sich an politischen Prozessen kompetent beteiligen zu können, genau andersherum: Es senkte die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Parteimitglied für das LiquidFeedback Berlin registrierte.

Weiterhin wurden die Gründe analysiert, warum sich die Aktivitätsniveaus der registrierten Parteimitglieder im LiquidFeedback voneinander unterschieden. Es wurde also nach Faktoren gesucht, die die Partizipation im LiquidFeedback beeinflussen. Hier wurde deutlich, dass sich eine hohe Bildung sowie ein hohes Einkommen deutlich partizipationsfördernd auswirkten. Folglich sind weniger gebildete und einkommensschwächere Parteimitglieder auch weniger im LiquidFeedback aktiv. Zudem übten das politische Selbstvertrauen sowie bestimmte altruistische Anreize starke positive Effekte auf das Aktivitätsniveau aus. Interessanterweise spielte der vermutete Einfluss, den einzelne Parteimitglieder, sogenannten Superdelegierte, auf die Entscheidungsfindung im LiquidFeedback ausüben, keine systematische Rolle für die Aktivität der befragten Parteimitglieder.

Sehr aufschlussreich war auch ein Vergleich zwischen den Faktoren, die die Partizipation an Landesmitgliederversammlungen und am LiquidFeedback bestimmten. Dabei fiel zunächst auf, dass die Mehrheit der Befragungsteilnehmerinnen bereits mindestens eine Landesmitgliederversammlung besucht und sich für das LiquidFeedback Berlin registriert hatten. Zudem stellte sich heraus, dass die Parteimitglieder, die mindestens eine Landesmitgliederversammlung besucht hatten, ein höheres Aktivitätsniveau im LiquidFeedback aufwiesen. Bereits an dieser Stelle wurde deutlich, dass LiquidFeedback im Landesverband Berlin wohl vor allem von denjenigen genutzt wird, die auch in der Offline-Welt politisch aktiv sind. Weiterhin wurde ersichtlich, dass die Teilnahme an Landesmitgliederversammlungen, im Gegensatz zur Partizipation im LiquidFeedback, nicht signifikant von der Bildung und dem Einkommen der Parteimitglieder beeinflusst wird.

Abschließend stellte sich die Frage, welche normativen Implikationen die dargestellten Ergebnisse beinhalten. Angesichts der zuvor generierten Erkenntnisse musste das Urteil eher negativ ausfallen: Die Partizipation im LiquidFeedback Berlin ist, zumindest auf Grundlage der generierten Daten, nicht mit weniger Hürden verbunden, als die Teilnahme an Landesmitgliederversammlungen. Vielmehr scheint das Gegenteil der Fall zu sein. Im Landesverband Berlin sorgt LiquidFeedback also eher für weniger, denn für mehr innerparteiliche Demokratie.

Unabhängig und unbeeinflusst von den Ergebnissen der Untersuchung von Mario Datts wird die Piratenpartei den Betrieb von LiquidFeedback in der bisherigen Frorm nicht weiterbetreiben sondern zukünftig unter dem Namen „Ständige Mitgliederversammlung“ (SMV) die inerparteiliche Mitbestimmung auf ein höheres Niveau heben. Und damit keine Missverständnisse auftreten, ist dies keine Aussage gegen die Software LiqiudFeedback – ganz im Gegenteil: Die SMV verwendet (lt. Beschluss) LiquidFeedback  3.0, die es den Mitgliedern erlaubt, sich online und direkt an der Gestaltung des Parteiprogrammes zu beteiligen. Sie ergänzt die Vor-Ort-Mitgliederversammlungen (Parteitage). Zur SMV wird es demnächst einen eigenständigen Artikel geben.

Martin Delius berichtet in Kürze in seinem Beitrag „LiquidEuropa“ darüber, dass es auch auf europäischer Ebene ein hohes Interesse an und Aktivitäten zur Weiterentwicklung der flüssigen Demokratie gibt.

Download der kompletten Arbeit von Mario Datts: Innerparteiliche Mitbestimmung in der Piratenpartei – Eine empirische Analyse der Partizipation am Liquid-Feedback im Landesverband Berlin

(*) Mit „LiquidFeedback Berlin“ ist hier und im Folgenden die Instanz „LiquidFeeedback“ bei der Piratenpartei Deutschland Landesverband Berlin gemeint.

 

 

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