Edward Snowden bald Ehrendoktor der Universität Rostock?
Edward Snowden bald Ehrendoktor der Universität Rostock?

Edward Snowden bald Ehrendoktor der Universität Rostock?

Im November 2013 beschloss die Philosophische Fakultät der Universität Rostock in der Sitzung ihres Fakultätsrates auf Antrag des Dekans Prof. Hans-Jürgen von Wensierski und der beiden Prodekaninnen Prof. Gesa Mackenthun und Prof. Elizabeth Prommer, ein Verfahren in Gang zu setzen, in dem die Möglichkeit geprüft wird, dem US-amerikanischen Staatsbürger Edward Snowden die Ehrendoktorwürde der Fakultät zu verleihen.

Wie einer Presseerklärung der Universität Rostock von 15.12.2013 zu entnehmen ist, begründeten die Dekane ihren Antrag moralisch mit der herausragenden Bedeutung, die der Zivilcourage und dem zivilen Ungehorsam von Herrn Snowdens Handeln zukommt:

Die Relevanz seines Handelns für verschiedene fachwissenschaftliche Diskurse, aktuelle gesellschaftspolitische Debatten sowie für die internationalen Beziehungen demokratischer Gesellschaften in einer kosmopolitischen Welt scheint evident.

Wissenschaftlich begründet die Fakultät ihre Entscheidung zu einem Prüfungsverfahren praxistheoretisch (im Sinne von Pierre Bourdieu), indem sie aus dem Handeln selbst ein hohes, wissenschaftlich relevantes Maß an philosophischer Reflexion ableitet.

Das Paradigmenhafte in der ebenso mutigen wie einsamen Entscheidung dieses jungen Mannes liegt darin begründet, dass sie wie unter dem Brennglas gleichermaßen philosophische, verfassungsrechtliche, völkerrechtliche, zivilisationstheoretische und staatspolitische Themen mit den klassischen Fragen nach der Freiheit, den Grundrechten, der Unabhängigkeit und der Zivilcourage des Individuums verbindet.

Soweit bisher sichtbar, resultiert seine Entscheidung zum Handeln aus der tief moralischen Auseinandersetzung mit dem Unrecht seiner eigenen beruflichen Praxis im Auftrag des amerikanischen Geheimdienstes. Herrn Snowdens Entscheidung, seine persönliche Freiheit zum höheren Zweck der Aufklärung über soziale Missstände zur Disposition zu stellen, lässt einen hohen Grad an philosophisch-praktischer Reflexion erkennen.

Edward Snowden, der sich momentan in einer Situation des vorübergehenden Asyls in Russland befindet, soziologisch betrachtet jedoch in einem Zustand der sozialen Verbannung, hat einen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskurs angestoßen, der auf vielen Ebenen kritische Fragen zum Verhältnis zwischen Individuum und Staat, zu den internationalen Beziehungen demokratischer Staaten, zur Garantie verfassungsmäßiger Grundrechte der Bürger in einer global vernetzten Welt, zur notwendigen rechtsstaatlichen Kontrolle staatlicher Institutionen sowie zum selbstverantwortlichen Umgang der Bürger mit ihren persönlichen Daten und ihren medialen Netzwerken aufwirft und unter dem Signum der globalen NSA-Affäre zusammenbindet.

Die gegenwärtige Debatte um die NSA-Abhöraffäre ist geeignet, die ‚Facebook-Generation’ der Schüler und Studenten am Beispiel eines aktuellen Themas und mit Hilfe eines altersgleichen jungen Mannes aufzuklären und sie für den Wert von Demokratie und die strukturellen Voraussetzungen für individuelle Freiheit und unveräußerliche Grundrechte sensibel zu machen. Als Reflexionsprozess der eigenen Politisierung und des Entschlusses von Edward Snowden, ganz persönlich Konsequenzen zu ziehen und die Auseinandersetzung mit einem übermächtigen Gegenüber zu wagen, macht er die Grundsätze aufgeklärter Diskursethik für unsere Studierenden greifbar und nachvollziehbar.

Als wissenschaftliche Institution, die auch immer in einer besonderen moralischen Verpflichtung gegenüber der Wahrung demokratischer Grundrechte und eines aufgeklärten Menschenbildes steht und die zugleich der politischen und moralischen Bildung ihrer Studierenden verpflichtet ist, sieht die Philosophische Fakultät der Universität Rostock in dieser Diskussion auch die Chance, mit wissenschaftlichen Mitteln zu einer notwendigen zivilgesellschaftlichen Debatte dieser Themen beizutragen.“

Inzwischen ist eine Kommission eingesetzt worden, die mit Hilfe von Experten aus der Universität Rostock und auch von außerhalb die Voraussetzungen für die Eröffnung eines Ehrenpromotionsverfahrens prüft. Die Liste der sieben Gutachter, die sie gewinnen konnten, liest sich eindrucksvoll: Der Sprachwissenschaftler Noam Chomsky ist dabei, der Soziologe Ulrich Beck, der Publizist und Frankfurter Professor Micha Brumlik sowie der Direktor des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung Prof. Dr. Harald Müller. Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Wolfgang Hoffmann-Riem, der eines der Gutachten zum Antrag auf die Verleihung der Ehrendoktorwürde an Snowden verfasst hat, sprach von einem „technisch-infrastrukturell-politisch-militärischen Komplex“, angesichts dessen es notwendig sei, die Grund- und Menschenrechte aufs Neue zu formulieren. Es könne keinen Rechtsschutz vor dem Missbrauch privater Daten geben, solange nicht einmal erkennbar sei, wer den Missbrauch begangen habe.

Am 9. April 2014 wird nun der Fakultätsrat entscheiden, ob sich Eward Snowden in Zukunft Dr. phil. h.c. nennen darf.

Download des Antragstextes hier:
http://www.uni-rostock.de/fileadmin/PHF/Bilder_News/Antrag-Dekanat-FR-Snowden-hc-14-11-2013.pdf

Ein Kommentar

  1. Rainer Thiem

    Nun ist die Entscheidung gefallen: Edward Snowden wird Ehrendoktor der Universität Rostock. Nachfolgend die Pressemitteilung der Philosophischen Fakultät zur Verleihung des Ehrendoktortitels an Edward Snowden vom 14. Mai 2014

    Die Philosophische Fakultät (PHF) hat in der Fakultätsratssitzung am 14.05.2014 mit 20 Ja-Stimmen, 1 Nein-Stimme und 1 Enthaltung beschlossen, dem Amerikaner Edward Snowden den Titel des Ehrendoktors der Philosophischen Fakultät zu verleihen.

    Der Antrag auf Verleihung der Ehrendoktorwürde an Edward Snowden ist durch die Ehrenpromotionskommission außerordentlich sorgfältig und unter Einbeziehung eines hochkarätigen internationalen Gutachtergremiums geprüft und bewertet worden. Von den sieben überaus renommierten Gutachtern wurden formal vier – die Professoren Ulrich Beck, Claus Leggewie, Harald Müller und Micha Brumlik – im Sinne der Promotionsordnung herangezogen. Drei weitere Gutachter – Prof. Noam Chomsky, Prof. Wolfgang Hoffmann-Riem (Verfassungsrichter a.D.) und Dr. Thilo Weichert – lieferten wissenschaftliche Analysen zur Bedeutung des Snowden-NSA-Komplexes.

    Auf eindrucksvolle Weise arbeiten alle Gutachten die wissenschaftliche Bedeutung des von Snowden aufgedeckten Wissens heraus und empfehlen einstimmig die Verleihung einer Ehrendoktorwürde durch die Philosophische Fakultät der Universität Rostock. Der Fakultätsrat der Philosophischen Fakultät hat sich dieser Einschätzung der Gutachter sowie der Beschlussempfehlung der Ehrenpromotionskommission vorbehaltlos angeschlossen. Die Enthüllungen von Edward Snowden und die dadurch in Gang gesetzte wissenschaftliche und zivilgesellschaftliche Debatte stellen im Blick der Fakultät eine hervorragende wissenschaftliche Leistung im Sinne des § 24 der Promotionsordnung der Philosophischen Fakultät dar.

    Für eine Philosophische Fakultät und ihr Wissenschaftsverständnis ist von herausragender Bedeutung, dass Edward Snowden in diesem Zusammenhang als ein bedeutender Aufklärer des 21. Jahrhunderts und des digitalen Zeitalters gelten kann. Die Funktion eines Aufklärers ist für den Wissenschaftsbegriff aller geisteswissenschaftlichen Fächer von eminenter Bedeutung. Es sind stets die Aufklärer, die in besonderer Weise gesellschaftliche Emanzipations- und Reformprozesse initiieren, vorantreiben und symbolisieren – nicht allein durch ideengeschichtliche Reflexion, sondern auch durch eine Philosophie der Praxis. Freiheit, Demokratie, Menschenrechte, Bürgerrechte und Vernunft sind zentrale Kategorien dieser Aufklärung in der Moderne. Edward Snowden hat mit seinem Handeln diese zentralen Werte der Aufklärung unter der Perspektive einer umfassenden Digitalisierung unserer Gesellschaften problematisiert und ihre Brüchigkeit für alle sichtbar offenbart. Unsere Gutachten belegen, wie grundlegend die Erschütterung unserer Gewissheiten für die Gesellschaft insgesamt, aber auch für die Wissenschaften im Besonderen ist.

    Edward Snowden steht mit seinem mutigen Handeln in der großen Tradition amerikanischer Bürgerrechtler, die sich im Dienst einer höheren Moral für den zivilen Ungehorsam gegenüber der eigenen Regierung entschieden haben. Mit Edward Snowden ehrt die PHF einen amerikanischen Patrioten, der sich für Amerika, die Werte der amerikanischen Verfassung und die weltweiten Menschenrechte einsetzt und sich dabei auf uramerikanische Werte und Traditionen beruft. Die moralische Integrität und die ethische Dimension der Zivilcourage und des Mutes dieses jungen Mannes, gerade auch in ihren gobalen und kosmopolitischen Dimensionen, stehen somit außer Frage. Eine Philosophische Fakultät, die sich explizit in der Tradition der europäischen und transatlantischen Aufklärung sieht, kann wissenschaftliche Leistung nicht losgelöst von moralischen, ethischen und zivilgesellschaftlichen Dimensionen des sozialen Handelns und der Persönlichkeit eines zu Ehrenden beurteilen. Insofern würdigt die Fakultät mit dem Titel eines Doktors „honoris causa“ sowohl den wissenschaftlichen Beitrag Edward Snowdens zu einem neuen globalen Diskurs über Freiheit, Demokratie, Kosmopolitismus und die Rechte des Individuums in einer global vernetzten digitalen Welt. Sie zeichnet aber auch die herausragende Zivilcourage Edward Snowdens aus, der seine bürgerliche Existenz für diesen Akt der Aufklärung über gesellschaftliche Missstände und den Verstoß gegen verfassungsmäßige Grundrechte geopfert hat. Wie auch unsere Gutachter explizit hervorheben, dient Snowdens Leistung nicht zuletzt der Wahrung der Freiheit von Lehre und Forschung – eine unschätzbare Errungenschaft moderner Gesellschaften, die um jeden Preis zu schützen ist.

    Die Zeremonie der Verleihung des Titels an Edward Snowden verlangt angesichts der ungewöhnlichen Umstände seines Exils in Moskau eine besondere Vorbereitung. Herr Snowden hat uns auf Anfrage inzwischen über seinen Anwalt Wolfgang Kaleck mitgeteilt, dass er sich durch diesen Wunsch geehrt fühlt und bereit wäre, den Titel anzunehmen. Wir werden in den nächsten Tagen wiederum über den Anwalt die Möglichkeiten einer würdigen Verleihungszeremonie ausloten.

    Die Entscheidung über eine Ehrenpromotion trifft in Rostock jede Fakultät autonom für sich. Im weiteren Verfahren wird die Philosophische Fakultät gemäß der Grundordnung der Universität den Vorgang an den Akademischen Senat geben, der dazu Stellung nimmt, ohne aber selbst zu entscheiden. Der Rektor führt in dem Verwaltungsverfahren die Rechtsaufsicht und wahrt damit die Verfahrensregeln der universitären Ordnungen.

    Wir bedanken uns abschießend ausdrücklich bei allen Gutachtern und Kollegen für ihre mutige Unterstützung in dem inzwischen sechs Monate dauernden kontroversen Diskussionsprozess.

    Rostock, den 14. Mai 2014
    Prof. Dr. Hans-Jürgen von Wensierski – Dekan
    Prof. Gesa Mackenthun – Prodekanin für Forschung
    Prof. Elizabeth Prommer – Medienwissenschaftlerin (z.Zt. USA)

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