Ein Gastbeitrag von Felix Stalder
In seiner gegenwärtigen Konfiguration spaltet sich das Internet in zwei Seiten: Hier das Front End, an dem NutzerInnen miteinander interagieren; dort das Back End, zu dem nur die EigentümerInnen Zugang haben. Internet-Theoretiker und Berliner Gazette-Autor Felix Stalder analysiert das dynamische Verhältnis beider Seiten und skizziert Bedingungen für eine Komplizenschaft.
Das heutige Internet bietet „out-of-the-box“, und dazu noch meistens kostenlos, sehr viel Organisationsfähigkeit an. Alles ist leicht zugänglich und leicht zu benutzen, aber dennoch erstaunlich effektiv und ermöglicht Menschen und Handlungen in einer Masse zu organisieren, für die noch vor kurzem eine große, teure bürokratische Organisation notwendig gewesen wäre.
Die Idee des „Organisierens ohne Organisation“ (Clay Shirky) atmet jenen optimistischen Geist, der das Netz nach wie vor umgibt: die Vision einer transparenten, auf weitgehender Freiwilligkeit beruhenden Gesellschaft, die Utopie der semiotischen Demokratie, der Fähigkeit der UserInnen, Neues zu kreieren, es zu teilen und am öffentlichen kulturellen Diskurs teilzunehmen. Es ist der sich immer wieder erneuernde Traum des Internets.
Straße, Karte und selbstfahrendes Auto in einem
Die leichten, flexiblen Organisationen sind eine Realität, eine erfreuliche sogar. Aber sie sind nur die Hälfte der Gleichung und das Gerede davon ist sehr problematisch. Denn die Idee selbst maskiert die andere Hälfte der Gleichung, nämlich dass sehr viele der Ressourcen des Organisierens aus den Organisationen ausgewandert sind und in die Infrastruktur selbst verlagert wurden.
Wenn wir an Infrastrukturen denken, denken wir meist an große, langweilige, vergleichsweise unflexible Dinge, wie Wasserleitungen, Straßen, oder öffentliche Verkehrsmittel. Die tiefsten Schichten des Internets haben tatsächlich diesen Charakter, sie bringen stupide Bits von A nach B. Aber die hier im Zentrum stehenden Eben der Infrastruktur sind ganz anders. Sie sind flexibel und sie können noch viel mehr als nur transportieren.
Um bei dem Bild zu bleiben: Sie sind Straße, Karte und selbstfahrendes Auto in einem und sie stehen allen gratis zu Verfügung. Niemand muss mehr Autofahren lernen, niemand verirrt sich je, und alle haben immer genau das Auto zur Verfügung, das sie gerade brauchen. Und das kostenlos! Kein Wunder, dass alle plötzlich so mobil sind und sich so frei fühlen.
In der Bereitstellung der integrierten Kombination von Straße, Karte und selbstfahrendes Auto liegt aber eine enorme Macht der Kontrolle und der Manipulation. Diese Macht ist aber nicht nur technisch kaum mehr nachzuvollziehen, sondern auch noch rhetorisch maskiert durch Simulation von Beteiligung und Partizipation. Sie schafft die heutige Version von dem, was Guy Debord einst „das Herz des Irrealismus der realen Gesellschaft“ nannte. Das Spektakel 2.0.
Trend zu Infrastrukturanbietern
Zunächst sind es die neuen institutionellen Vorkehrungen, die diese leichten Organisationen möglich machen. Denn bei der organisierten Potenz gibt es eine Verschiebung weg von der einzelnen Institution in Richtung Infrastrukturanbieter. Gerade weil sich momentan dort so viel organisatorische Kapazität befindet, brauchen einzelne Projekte sie nicht zu (re)produzieren und scheinen sich damit leichter zu organisieren.
So entdecken wir, dass die Dynamiken dieser Infrastrukturen durch zwei gegensätzliche Dynamiken gekennzeichnet sind: Eine ist leicht, dezentral, billig, einfach zu bedienen, Community-orientiert und transparent. Die andere ist schwer, zentralisiert, basierend auf langfristiger Planung, sehr teuer, kompliziert zum Laufen zu bringen, geschlossen und undurchsichtig.
Wenn der persönliche Blog oder Twitter Account die eine Seite darstellt, ist ein Rechenzentrum die Gegenseite. Alle klassischen Erfahrungen und Praktiken konventioneller Organisationen mit ihren Hierarchien, formalen Richtlinien und ihrer Geld-Orientierung, sind angeblich auf der einen Seite irrelevant. Aber auf der anderen Seite sind sie dominierend.
Die sich ständig verbessernde Bedienbarkeit des Social Web geht Hand in Hand mit stetig abnehmenden Nutzerrechten. Aber diese spezifische Balance verändert sich ohne Unterlass, mehr oder weniger abhängig von Gesetzen, Richtlinien oder davon, wie stark User Widerstand leisten, um Rechte und Funktionen einzufordern. Denn die Fähigkeit der User Widerstand zu leisten, ist sehr begrenzt.
Für jeden bekannten Fall von „Zensur“ oder „Datenmissbrauch“, gegen den die Öffentlichkeit erfolgreich demonstriert, gibt es eine große Zahl von Fällen, die unwissende Nutzer betreffen. Oder Fälle, deren Inhalte zu unspektakulär sind, um im Rampenlicht zu stehen. Die Fokussierung auf einen spektakulären Missbrauchsfall bedeutet immer: ganz viele andere Fälle bleiben unsichtbar. Das liegt im Wesen des Fokussierens.
Spannung im Social Web
So gibt es eine Spannung im Kern des Social Web. Die Nutzer befinden sich in einem strukturellen Ungleichgewicht mit den Dienstleistern auf der anderen Seite. Denen bieten sich große Vorteile, wenn sie viel Aufmerksamkeit und Ressourcen investieren. Sie müssen nur die Infrastrukturen so ausgestalten, dass der Handlungsraum der Nutzer strukturiert ist und jene nur machen können, was (auch) den Interessen der Anbietern dient.
Den Nutzern wiederum ist es wegen der enormen Distanz zum Back End kaum einsichtig, wie das genau geschieht. Der Wettbewerbsdruck wird Anbieter nicht dazu bringen, den Nutzern mehr Freiheiten zu bieten. Darauf zu spekulieren ist genauso aussichtslos wie es abwegig ist zu erwarten, dass sich durch den Konkurrenzdruck des Marktes die Qualität der medialen Berichterstattung verbessert.
Wenn wir daran interessiert sind, das Ermächtigungspotential neuer Formen der Zusammenarbeit zu realisieren, müssen wir uns auf die Beziehung zwischen den Dynamiken des Front End und Back End konzentrieren. Nur so können wir verstehen, ob und wo sie widersprüchlich sind. Dann können wir institutionelle Rahmenbedingungen entwickeln, die die Interessen der Ad-hoc-Communitys gegen ebendiese formal organisierten Akteure, die sie unterstützen, ausbalancieren.
Benutzerprofil: Wahrer wirtschaftlicher Wert
Soziale Plattformen ermöglichen das Sammeln von sehr detaillierten Daten über Individual- und Gruppeninteressen in Echtzeit, insbesondere wenn sie mit anderen Datenquellen kombiniert sind. Das ist Standard seit die meisten Web 2.0-Plattformen mit großen Medienkonzernen kooperieren oder in ihrem Besitz sind.
Das Ausmaß, die Präzision und die Geschwindigkeit dieses Sammelns von Daten ist beispiellos; das Benutzerprofil ist der wahre wirtschaftliche Wert. Es dient dazu, passgenaue Werbung schalten zu können.
Soweit so gut. Zunehmend dient es aber dazu, gleichzeitig die Straße, die Karte und die Konfiguration des selbstfahrenden Autos anzupassen: Die Wahrscheinlichkeit, dass der Nutzer in eine für den Anbieter profitable Richtung fahren will, soll vergrößert werden; gleichzeitig soll etabliert werden, dass man für die Bereitstellung einer Abzweigung zahlt.
Neue Form der Macht
Werbung ist nach wie vor das dominante Geschäftsmodell für Plattformen, die kommerziell organisiert sind und nicht wie zum Beispiel Wikipedia von einer Community unterstützt werden.
Das Anhäufen von großen Mengen an Daten, um den Service und das Verhältnis zu den Werbern zu verbessern, ist die logische Konsequenz. Die Basis auf der die User (soziale) Arbeit durch das Schaffen und Pflegen ihrer sozialen Netzwerke am Front End tun, hat sich auf der Back End Seite zu einem finanziellen Wert gewandelt.
Jenseits der unmittelbaren wirtschaftlichen Nutzung kann es keinen Zweifel daran geben, dass Echtzeit-Wissen über Gruppenbildung und über die sich verändernden Muster der kollektiven Interessen und Wünsche eine neue Form der allgemeinen Macht darstellt. Aber sollte diese Macht wirklich nur in privater Hand liegen? Und sollte sie lediglich gegenüber einem sich ständig wandelnden Begriff von Dienstleistung sowie den Image-Bedürfnissen eines jeweiligen Unternehmens rechenschaftspflichtig sein?
Die aktuelle Gesetzgebung zum Datenschutz scheint schlecht gerüstet, um sich mit diesen Fragen zu beschäftigen. Sie legt den Schwerpunkt weiterhin auf den Datenschutz des Einzelnen und hat kein Konzept wie Daten gleichzeitig geteilt und geschützt werden können.
Aber wenn wir keine Wege finden, diese Probleme zu adressieren, wird eine echte Gefahr in sozialen Netzwerken entstehen: Die enormen Mengen an persönlichen und gemeinschaftlichen Daten bestärken die Akteure mit Zugang zum Back End erheblich mehr als die Akteure am Front End. So kippt das Gleichgewicht – nicht zu Gunsten den leicht horizontalen Gruppen. Sondern zu den dicht und hierarchisch organisierten Gruppen, die angeblich eben überwunden wurden.
Urheberrechte: vom Autorenrecht zum Managementinstrument
Zumeist wird die Sache mit dem Urheberecht noch mit der Figur des individuellen Autors, der beraubt würde, diskutiert. Aber darum geht es gar nicht mehr – spätestens seitdem das Teilen in Netzwerken Alltag geworden ist. Einige der sich daraus ergebenden Konflikte spielen sich auf dem Level des Front Ends ab (wo zehntausende User tagtäglich für ihre Aktivitäten verklagt werden). Aber der eigentliche Schlüssel liegt in der Struktur des Back Ends.
Hier wurde eine Überwachungsinfrastruktur geschaffen, die das Urheberrecht nutzt, um ungeahnte Managementkontrolle auszuüben. Im Zuge dessen können die Nutzer diszipliniert werden und ihre Freiheit lässt sich grundlegend umdeuten: Von Freiheit im Sinne von Meinungsfreiheit zu Freiheit im Sinne von Freibier.
Semiotische Demokratie vs. Spektakel 2.0
Es wäre aber zu einfach, das Lichtbild der semiotischen Demokratie mit dem Dunkelbild des Spektakels 2.0 zu kontrastieren. Das Ergebnis würde etwa so aussehen: Soziale Beziehungen werden durch versteckte Werbung und andere Formen der Manipulation immer verzerrter; eine gigantische Überwachungsmaschine breitet sich auf die Reichweite von machtvollen Institutionen aus, so dass sie auftretende soziale Phänomene manipulieren kann. Entweder bevor diese die kritische Masse erreichen. Oder sie hilft, dass je nach Ziel und Strategie, diese Phänomene viel früher an die Masse gelangen.
Aber die Welt ist nicht schwarz oder weiß und sie ist schon gar nicht in einem unbestimmten grau. Angesichts der Flexibilität der Technologie und deren Umsetzung, lässt sie sich gut (vielleicht zu gut) beeinflussen. Wie genau wird von sozialen Akteuren und ihren widersprüchlichen Absichten, Bedürfnissen und Fähigkeiten entschieden. Darin besteht aber auch das Problem. Je mächtiger die Infrastrukturanbieter werden, desto besser können sie Infrastrukturen bereitstellen, die ihre Macht noch weiter zementieren.
Anstatt unsere Hoffnung in irgendwelche immanente Qualität von Technologien zu platzieren, müssen wir dringende Fragen stellen: Wie können wir sicherstellen, dass Community-Bereiche sich nach ihren eigenen Bedürfnissen und Wünschen entwickeln können, auch wenn starker Druck von außen, durch wirtschaftliche Ansprüche und endloses Security-Denken, auf allen Ebenen ausgeübt wird?
Bedingungen für die Zukunft
Die Freie Software Bewegung hat gezeigt, auch dank der Kraft der Copyleft Lizenzen, dass das in vielerlei Hinsicht möglich ist. Wikipedia zeigt uns, wie viel kontinuierlicher und organisierter Fleiß dazu nötig ist. Wie können wir sicherstellen, dass die Macht, die sich am Back End sammelt, so verwaltet wird, dass es nicht gegen die Verteilung der kommunikativen Macht wirkt? Es scheint klar, dass die individuellen Servicekonditionen und die Wettbewerbsregeln des Marktes nicht ausreichend sind.
Drei Dinge scheinen notwendig. Erstens, eine neue Gesetzgebung, die den Missbrauch der Macht durch deren Konzentration im Back End einschränkt. Zweitens, öffentlicher Zugang zu den im Back End generierten Daten, oder zumindest deren Interoperabilität, um Monopole zu verhindern. Drittens, ökonomische Modelle, die es erlauben, die Dynamiken des Back Ends denen des Front Ends unterzuordnen (anstatt umgekehrt, wie es aktuell der Fall ist). Hier ist die Wikipedia ein mögliches Modell, wie sich die Community ihre Infrastruktur schafft.
Die Alternative dazu ist, dass die neue Infrastruktur nur jene befähigt, deren Interessen angepasst sind oder zumindest nicht in Konflikt mit den treten, die das Back End kontrollieren. Den anderen dämmert eine Zukunft gekürzter Lebenschancen, eingeschränkter Möglichkeiten und fremdbestimmter Beziehungsmuster. Das Ergebnis: keine semiotische sondern eine gemanagte Demokratie.
Der Beitrag wurde erstmals im April 2013 in der Berliner Gazette veröffentlicht. Wir danken Felix Stalder und Krystian Woznicki http://berlinergazette.de/front-back-end-komplizenschaft/#more-50730 für die Zustimmung zur Veröffentlichung. Die Grafik im Text basiert auf einer Nachricht des Konzerns Google an seine Nutzer.