Griechenland und Europa – da war doch was?
Griechenland und Europa – da war doch was?

Griechenland und Europa – da war doch was?

Rezension der Streitschrift: Europa geht auch solidarisch!
Und Eindrücke von einer Podiumsdiskussion mit dem griechischem Finanzminister Euclid Tsakalotos, der Arbeitsministerin Eftychia Achtzioglou, sowie Gesine Schwan, Axel Trost und Jürgen Trittin, moderiert von Ulrike Herrmann am 16.12. in der Berliner Urania

Von Thomas Henke

Am 16.12.2016 skandalisiert der Spiegel: „Schuldenstreit mit Griechenland. Der alte Tsipras ist zurück“ und die Bundesregierung erscheint auch nicht amüsiert. Was war passiert: Die griechische Regierung hat angekündigt, den Rentnern im Schnitt 380 Euro Weihnachtsgeld zu zahlen. Außerdem sollen Mehrwertsteuererhöhungen auf den griechischen Inseln, die Flüchtlinge versorgen, aufgeschoben werden. Skandalös soll auch sein: Für 30.000 Kinder ist in der Schule kostenloses Essen geplant.

Podiumsdiskussion in der Urania

Auf der Podiumsdiskussion mit dem griechischen Finanzminister am 15.12.2016 in der Urania Berlin konnte man einen Eindruck davon erhalten, wie die Situation in großen Teilen Griechenlands ist. Hilfsorganisationen sammelten Geld für Medikamente und für Lebensmittelpakete. Unter anderem wird klar, das wegen des Fehlens jeglicher Arbeitslosenunterstützung ganze Großfamilien von der Rente der Großeltern leben müssen.
Auf der Bühne kündigt die griechische Arbeitsministerin Frau Achtzioglou an, den Beschäftigten werde es nun wieder erlaubt, Tarifverhandlungen zu führen. Nur am Rande bemerkt, die Koalitionsfreiheit und das Streikrecht haben in Deutschland Verfassungsrang, in Griechenland scheinen sie aufgehoben. Auch die obigen kleinen Sozial-Maßnahmen werden vom Finanzminister Tsakalotos vorgestellt. Es wäre Griechenland auf Dauer unmöglich die Schulden zu tilgen und der von den „Institutionen“ verlangte sogenannte Primärüberschuss im Staatshaushalt von 3,5 Prozent sei auf Dauer illusorisch. Auf deutsche Verhältnisse bezogen wäre das ein jährlicher Primärüberschuss von 80 Milliarden Euro und nicht nur die schwarze 0 auf die der deutsche Finanzminister so stolz ist.

Insgesamt appellieren beide Minister an die europäischen Grundwerte und die europäische Solidarität. In dieser Situation erfüllt die griechische Regierung alle Forderungen und Vereinbarungen, versucht aber einige soziale Akzente zu setzen.
Diese stoßen dann den „Institutionen“ und Schäuble sofort auf. Was bleibt, so die griechischen Vertreter ist die Hoffnung, dass sich die politischen Konstellationen v.a. in Deutschland 2017 verändern.
Die Vertreter einer möglichen rot-rot-grünen Koalition auf dem Podium waren sich einig, dass ein Primärüberschuss von 3,5 Prozent auf Dauer nicht zu erwirtschaften ist. Gesine Schwan verwies zudem auf die Notwendigkeit, auch die griechischen Forderungen aus den Zwangsanleihen während der faschistischen Besatzung einzubeziehen. Sie plädierte wie Jürgen Trittin für einen Schuldenschnitt. Trittin sah zudem die Möglichkeit, dass im Rahmen transeuropäischer Energieversorgungsnetze Solarenergie aus Griechenland, Spanien und Italien exportiert werden könne.

Zur Streitschrift: „Europa geht auch solidarisch!“

Die profiliertesten Alternativen zur gängigen Position der deutschen Finanz- und Juristenwelt, 3,5 Prozent Primärüberschuss skizzierten Axel Trost und Gesine Schwan. Sie bezogen sich dabei auf die neu erschienene Streitschrift: „Europa geht auch solidarisch“, von einem interessanten Kollektiv linker, grüner und sozialdemokratischer Autor*innen (s.u.).
Sie befassen sich auf den 80 Seiten nicht speziell mit Griechenland sondern grundsätzlich mit Europa und das macht auch mit Blick auf die Perspektiven für Griechenland durchaus Sinn.

Die Broschüre sieht die einzelnen Krisenelemente in Europa im Zusammenhang. Die Fehlkonstruktion des Euro – Währungsunion ohne eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik (Kapitel 3) – hätte durch die Austeritätspolitik seit der ökonomischen Krise 2009, verbunden mit Leistungsbilanzungleichgewichten zu einer Abwendung immer breiterer Bevölkerungsschichten und zum Scheitern des europäischem Wohlstandsversprechens (S. 9) geführt. Der Nationalismus sei schon hierdurch gestärkt worden, nun komme noch die Unfähigkeit der EU hinsichtlich der Migrationsbewegungen dazu (Kapitel 2). Anstatt sich den Fluchtursachen wie der starken Zunahme der „failed states“ oder dem Klimawandel zu stellen und legale Zugangswege nach Europa zu schaffen, würden völkerrechtswidrige Abkommen geschlossen und auf eine militärische Abschottung gesetzt.
Eine linke Antwort darauf könne nicht die Rückkehr zum Nationalstaat und zu nationalen Grenzen sein. Vielmehr sollten positive Anreize für die Aufnahme von Flüchtlingen gesetzt werden. Kommunen, die geflüchtete Menschen aufnehmen, sollten auch Gelder für ihre Infrastruktur erhalten. So würde es den Nationalstaaten schwerer fallen, die ablehnende Haltung beizubehalten. Hierin sehe ich, am Rande bemerkt, einen sehr interessanten Vorschlag für die nächste Strukturfondperiode der EU, wenn dann bspw. EFRE-Gelder an die Zahl der aufgenommenen Menschen gekoppelt würden.

Sie plädieren für den Plan A, durch den der Euro und die EU über eine Radikalreform stabilisiert werden sollen (S.81) Plausibel wird erläutert, dass ein Austritt aus der Eurozone für keinen der EU-Staaten eine Lösung wäre. Eine erhoffte Abwertung der neuen nationalen Währungen um die Leistungsbilanzdefizite zu senken, hätte drastische Reallohnsenkungen zur Folge. Die Aufwertung führe in den Gläubigerstaaten zu ebenso deutlichen Wohlstandsverlusten (Kapitel 4).

Die Grundzüge einer radikalen EU-Reform werden im fünften Kapitel beschrieben:

– die Ablösung der Austeritätspolitik durch eine expansive Wachstums- und Beschäftigungspolitik. Statt die Ersparnisse in Form von Kapitalexporten ins Ausland zu transferieren, sollten diese Gelder in die technische und soziale Infrastruktur fließen.

– Eine europäische Ausgleichsunion. Diese könne die Leistungsbilanzen ausgleichen. Für Deutschland hieße das u.a. höhere Binnennachfrage und ein höheres Lohnniveau.

– Eine gemeinsame Schuldenpolitik zur Bonitätsverbesserung der Staatsanleihen statt der Abschöpfung der Zinsvorteile u.a. durch Deutschland.

– Wege einer europäischen Sozialunion (gemeinsame Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik, europäische Lohn- und Einkommenspolitik, Koordinierung der sozialen Sicherungssysteme),

– Schärfere Finanzmarktregeln und eine schlagkräftigere Steuerpolitik

– Eine demokratisch legitimierte Europäische Wirtschaftsregierung die auf der Basis eines großen Bundeshaushaltes bspw. in der Krise eine expansive Fiskalpolitik verfolgen könnte (vgl. USA).

Diese Vorschläge zeigen, dass sich EU und Euro reformieren ließen und leuchten trotz aller Bedenken deutlich mehr ein, als die offizielle deutsche Position der „schwäbischen Hausfrauen“, nach der Schulden nun einmal zurückzuzahlen sind und die Griechen bspw. nur zu faul sein und lieber herumtricksen und Rentnern ein zusätzliches Weihnachtsgeld spendieren.

In der Streitschrift wird darauf verwiesen, dass in der ökonomischen Theorie Verlierer auf dem Markt von den Gewinnern verdrängt werden (S. 58) Unter Staaten ginge das allerdings nicht, denn ein Staat könne nicht einfach vom Markt verschwinden wie ein Unternehmen.
Wenn nur ein reformiertes Europa eine tragfähige Lösung ist, so bleibt die Frage der Perspektive und Umsetzbarkeit. Wie kann diese Position eines solidarischen Europa Mehrheit werden? Immerhin setzen selbst Teile der Linkspartei ökonomisch auf nationale Lösungen und Sozialdemokraten machen zusätzlich der AfD damit Konkurrenz, dass sie bspw. den Kindergeldbezug für EU-Bürger in Deutschland einschränken wollen.

Eine zentrale Ursache der Tragfähigkeit der deutschen Austeritätspolitik kommt in der Streitschrift nicht in Gänze vor. Es wird auf die massiven Zinsvorteile der Bundesrepublik durch die ökonomische Krise u.a. in Griechenland verwiesen. Es fehlt aber, dass nicht nur der bundesdeutsche Haushalt und die Exportindustrie sondern auch Teile der Beschäftigten, insbesondere die noch vorhandenen Stammbelegschaften von der Exportorientierung mehr als deutlich profitieren. Die Sonderzahlungen für die Beschäftigten etwa in der Automobilindustrie sprechen hier eine deutliche Sprache (Daimler in 2015: 5600 Euro, BMW: über 8000 Euro). Es ist sicherlich kein Zufall, dass sich der Verdi-Vorsitzende und nicht der IGM-Vorsitzende unter den Autoren befindet.
Diese unterschiedlichen Interessen müssten in der Perspektive beleuchtet werden, denn mit der nationalen Karte spielt nicht nur Gabriel, sondern zumindest gelegentlich auch Lafontaine.
Vor diesem Hintergrund ist die Streitschrift ein wichtiger Beitrag der ökonomischen Vernunft. Es bleibt zu hoffen, dass es gelingt hierfür innerhalb der optionalen Rot-rot-grünen Koalition eine Mehrheit zu finden. Zentral wird sein, ob diese Mehrheit ohne nationalistische Reflexe gewonnen werden kann um dann Europa solidarisch reformieren zu können.

Europa geht auch solidarisch!

Streitschrift für eine andere Europäische Union.
Von: Prof. Klaus Busch (Berater von ver.di), Dr. Axel Troost (Linkspartei MdB), Prof. Gesine Schwan (Grundwertekommission der SPD), Frank Bsirske (Verdi-Vorsitzender und Grüner), Joachim Bischoff (Hrsg. Sozialismus), Prof. Mechthild Schrooten (Memorandumgruppe) und Harald Wolf (eh. Berliner Wirtschaftssenator, Linkspartei),
Hamburg 2016

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