Von Dr. Simon Weiß, Rechtspolitischer Sprecher der Piratenfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus
Direkte Demokratie in Berlin ist erfolgreich. Sie hat in den letzten vier Jahren zwei Volksgesetze – zur Veröffentlichung der Privatisierungsverträge der Wasserbetriebe und zum Erhalt der Freifläche auf dem Tempelhofer Feld – auf den Weg gebracht. Gerade diese Erfolge regen aber die Diskussion um Änderungen, Ergänzungen und Erweiterungen der Instrumente der direkten Demokratie an. Selbst die Rot-Schwarze Koalition, die in ihrer Koalitionsvereinbarung Änderungen der gesetzlichen Grundlagen in diesem Bereich noch eine Absage erteilt hat, wirft nun völlig neue Ideen – konkret die Einführung von Volksbefragungen – in die Diskussion.
Ist die direkte Demokratie in Berlin reformbedürftig? Die Antwort lautet: Ja. Ein Blick auf die erfolgreichen Volksentscheide der letzten Jahre zeigt, dass ihre Trägerinnen diese als letzte Möglichkeit gesehen haben, in politische Entscheidungen einzugreifen, in die sie zuvor nicht eingebunden waren. Direkte Demokratie sollte nicht die Rolle einer Notbremse spielen, mit der in letzter Sekunde in politische Prozesse eingegriffen wird; sie sollte ein selbstverständlicher Bestandteil von Stadtpolitik sein und Mitgestaltungsräume zulassen.
Die Landespolitik muss einen unaufgeregten Umgang mit den Prozessen und Ergebnissen direkter Demokratie erst finden. Wenn sich Diskussionen so zuspitzen, dass Entscheidungen über Sachfragen von der Aussicht überschattet werden, der Landesregierung eine Niederlage zu bescheren, ist dies weder der Sache, noch der direkten Demokratie, noch der Stadt zuträglich.
Braucht Berlin Referenden?
Von Seiten der SPD wird vorgeschlagen, die Verfassung von Berlin (im Folgenden VvB) zu ändern, um Volksbefragungen zu bestimmten Vorhaben zu ermöglichen. Dieser Vorschlag ist in der bisher diskutierten Form problematisch – er zeigt aber in eine Richtung, die es sich dringend lohnt, weiter zu verfolgen.
Referenden, in denen dem wahlberechtigten Teil der Bevölkerung eine Frage zur Entscheidung vorgelegt wird, sind keine neue Erfindung. Sie sind in der Geschichte der modernen Demokratie älter als Verfahren, in denen Vorlagen zur Abstimmung aus Initiativen aus dem Volk entstehen. Der Nachteil solcher Befragungen: Sie überlassen den Regierenden die Entscheidung, wann und über welche Themen überhaupt abgestimmt wird und ebenso über konkrete Formulierungen der Fragestellung.
Damit läuft ein solches Instrument Gefahr, vor allem der besseren Legitimierung von Regierungspolitik zu dienen. Denn es ist abzusehen, dass vor allem solche Vorlagen zur Abstimmung gebracht werden, bei denen mit einer Zustimmung zu rechnen ist. Vor allem aber problematisch ist es, wenn die Befassung mit einem Thema auf Zustimmung oder Ablehnung eines von oben vorgegeben Vorschlags reduziert wird. Alternative Vorschläge kommen so nicht mehr zu Wort. Dass die Form der Fragestellung einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf das Ergebnis hat, ist hinlänglich bekannt und lässt sich leicht am Beispiel von Meinungsumfragen demonstrieren.
Gleichwohl ist es im Sinne des oben skizzierten Reformbedarfs durchaussinnvoll, wenn eine direktdemokratische Behandlung von politischen Vorhaben möglichst früh und nicht erst mit oder nach ihrem Abschluss stattfinden kann. Ein Initiativrecht des Abgeordnetenhauses, eine solche Behandlung herbeizuführen, kann dazu in der Tat einen Beitrag leisten. Allerdings muss dann sichergestellt sein, dass sich auch alternative Vorschläge Gehör verschaffen können. So wie schon jetzt bei Volksentscheiden neben einen Entwurf, der initiativ aus der Berliner Zivilgesellschaft hervorgeht, ein Entwurf des Abgeordnetenhauses gestellt werden kann (Art. 62 Abs. 4 Satz 3 VvB), so muss umgekehrt eine „Volksbefragung“ die Möglichkeit konkreter Gegenentwürfe aus der Bevölkerung bieten.
Praktisch umsetzbar ist dies dann, wenn nach dem parlamentarischen Beschluss, ein Referendum über einen bestimmten Vorschlag durchzuführen, innerhalb einer gewissen Frist Unterstützung für Gegenvorschläge gesammelt werden kann. Die Abstimmung kann dann zwischen zwei Alternativen durchgeführt werden: Dem Vorschlag aus dem Abgeordnetenhaus und dem Gegenvorschlag, der die meiste Unterstützung erhalten hat. Ein eigenes Unterstützungsquorum zur Feststellung der Relevanz ist in diesem Fall verzichtbar. Denkbar ist auch eine Abstimmung über mehr als zwei Alternativen, dies würde aber weitergehende Änderungen erfordern (siehe unten).
Zu unterscheiden von dem hier diskutierten Modell der Volksbefragung sind die obligatorischen und fakultativen Referenden, deren Durchführung nicht im Ermessen der Regierungsmehrheit liegt. Bereits jetzt erfordern Änderungen der Verfassung, die die direkte Demokratie selbst betreffen, eine Bestätigung durch eine Volksabstimmung (Art. 100 Satz 2 VvB). Diese Regelung wollen wir auf alle Verfassungsänderungen ausweiten – und haben dazu schon konkrete Regelungsvorschläge vorgelegt (Drs. 17/0569) – ebenso wie auf andere Entscheidungen erheblicher Tragweite wie Privatisierungen im Bereich der Daseinsvorsorge. Denkbar sind auch Regelungen, die – wenigstens in bestimmten Fällen besonderer Bedeutung – die Durchführung fakultativer Referenden von einem Unterstützungsquorum in der Bevölkerung oder der Unterstützung durch eine Minderheit im Abgeordnetenhaus abhängig machen.
Hürden zur Beteiligung abbauen!
Wenn direkte Demokratie keine Ausnahme in der Berliner Politik sein soll, dann muss auch darüber geredet werden, Hürden zu senken, die eine Teilhabe daran erschweren.
Dies betrifft zunächst einmal unmittelbar die Quoren, die zur erfolgreichen Durchführung eines Entscheids erreicht werden müssen (Art. 63 Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 Satz 3 VvB). Diese stellen auch für solche Trägerinnen, deren Anliegen ohne Frage von gesamtstädtischer Relevanz sind, erfahrungsgemäß ein erhebliches Hindernis dar. Bei einer Reform des Abstimmungsgesetzes sollte daher auch eine Absenkung der Zahl der erforderlichen Unterstützer von Volksbegehren ins Auge gefasst werden. Das hohe Zustimmungsquorum beim Volksentscheid selbst (Art. 63 Abs. 1 Satz 3 VvB) – an dem etwa der Volksentscheid des Energietisches trotz deutlicher Mehrheitsverhältnisse gescheitert ist – ist vollständig verzichtbar.
Im 21. Jahrhundert ist es zudem nicht nachvollziehbar, warum die Unterstützung von Volksbegehren nur über Unterschriftenlisten auf Papier möglich ist und nicht elektronisch (so aber Art. 63 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1VvB). Über eine geeignete Onlineplattform könnte nach einmaliger amtlicher Registrierung die Unterstützung bekundet werden; die rechtlichen Voraussetzungen sind leicht zu schaffen und es kann an bestehende Konzepte aus dem eGovernment-Bereich angeknüpft werden. Die Möglichkeit der Unterstützung durch Unterschrift kann dabei unberührt bleiben. Die eigentliche Endabstimmung muss ohnehin zwangsläufig nichtelektronisch durchgeführt werden, um dem Wahlcomputerproblem zu entgehen.
Um keine unnötige Hürde zur Teilnahme am Entscheid selbst aufzubauen, ist es geboten, diesen soweit möglich mit anderen Wahlen oder Abstimmungsterminen zusammenzulegen. Dies ist zwar vom Grundsatz her bereits jetzt geregelt, die Praxis beim Volksentscheid des Energietisches hat aber den Bedarf nach einer Klarstellung gezeigt. Auch hierzu haben wir bereits einen Vorschlag vorgelegt (Drs. 17/1113). Eine andere Frage, die in die Diskussion gehört, ist die, ob und in welcher Form für die Trägerinnen von Volksbegehren eine Kostenerstattung eingeführt werden sollte, wie sie auch bei Wahlen existiert.
Zum notwendigen Abbau von Hürden gehört es unserer Ansicht nach auch, das Recht zur Teilnahme an Abstimmungen nicht mehr an Alter oder Staatsbürgerschaft zu koppeln, wie wir es auch für Wahlen fordern. Allerdings wird zumindest Letzteres wohl nach Lage der Rechtsprechung nicht ohne eine Änderung des Grundgesetzes möglich sein, so dass es in der konkreten Diskussion auf Landesebene erst einmal keine Rolle spielen kann.
Beteiligung von Anfang an – Diskussionen und Alternativen ermöglichen
Wenn die direkte Demokratie nicht nur ein Mittel sein soll, in schon abgeschlossene Entscheidungen einzugreifen, dann muss die Einbindung in politische Entscheidungen schon im Vorfeld verbessert werden. Neben der allgemein gebotenen Weiterentwicklung der Beteiligung an Entscheidungsprozessen der Verwaltung bedeutet das auch die Stärkung des Instruments der Volksinitiative. Die darin bestehende Möglichkeit, allgemeine Anliegen dem Abgeordnetenhaus zur Beratung und Stellungnahme vorzulegen, ist zur Zeit mit unverhältnismäßig hohen Hürden belegt, so dass das Instrument nur gelegentlich genutzt wird.
Warum sich aber 20.000 Unterschriften (Art. 63 Abs. 1 Satz 1 VvB) finden müssen, um letztlich nicht mehr zu tun, als einen parlamentarischen Vorgang anzustoßen – was im Abgeordnetenhaus selbst mehrmals die Woche passiert -ist nicht verständlich. Auch der Vergleich mit dem anderswo existierenden Massenpetitionswesen, das zwar auf anderen Rechtsgrundlagen beruht, aber vergleichbare Funktionen erfüllt, legt eine Absenkung nahe. Wir haben daher in einem unserer ersten Anträge im Abgeordnetenhaus vorgeschlagen, diese Hürde deutlich abzusenken und auch die bereits erwähnte Onlineunterstützung zu ermöglichen (Drs. 17/0142 und 0143).
Eine Schwäche der derzeitigen Instrumente der direkten Demokratie lässt sich nicht bestreiten: Während im Parlament der Grundsatz gilt, dass kein Gesetzesentwurf das Haus so verlässt, wie er eingebracht worden ist, gibt es für die Volksgesetzgebung keinen analogen Prozess der Beratung. Es obliegt also allein der Trägerin, einen Entwurf zu formulieren, der mögliche Kritikpunkte berücksichtigt; danach steht der Abstimmungsgegenstand fest. In der ersten Phase eines Volksbegehrens könnte hier die Möglichkeit von Änderungen verankert werden, ebenso könnte hier bereits eine – rein beratende – erste Befassung im Abgeordnetenhaus vorgesehen werden.
Den besten Beitrag dazu, eine breitere Beteiligung an der Entwicklung des Abstimmungsgegenstands herzustellen, bestünde aber in einer anderen Neuerung: Der Möglichkeit, mehrere Begehren zu einem Thema parallel zu entwickeln. Für die genaue Umsetzung sind dabei verschiedene Möglichkeiten denkbar. So wäre zu diskutieren, ob am Ende nur über eine Vorlage abgestimmt wird (naheliegenderweise wohl die mit der breitesten Unterstützung) oder über mehrere (wie ja jetzt schon die Abstimmung über zwei alternative Entwürfe möglich ist und mit dem Tempelhof-Volksentscheid erstmals umgesetzt wurde).
Was ist nach dem Volksentscheid?
Zum richtigen Umgang mit direkter Demokratie gehört auch der richtige Umgang mit ihren Ergebnissen. Dabei spielen zwei Fragestellungen eine Rolle:Wie wird die Umsetzung eines per Volksentscheid beschlossenen bzw. geänderten Gesetzes, dessen Inhalt ja der Natur der Sache nach keine parlamentarische Mehrheit hinter sich hat, kontrolliert bzw. von den zivilgesellschaftlichen Gruppen, die ihn initiiert haben, begleitet – und zweitens: Wann und unter welchen Umständen kann ein Volksgesetz vom Parlament wieder geändert werden?
Während es für Ersteres wohl kein festzuschreibendes Patentrezept gibt, sind für Letzteres sinnvolle allgemeine Regelungsmöglichkeiten denkbar. Faktisch wäre es nach der derzeitigen Rechtslage möglich, ein Volksgesetz im Abgeordnetenhaus unmittelbar wieder zurückzunehmen; offenkundig ist, dass ein solches Vorgehen politisch nicht durchsetzbar wäre. Andererseits kann einem Volksgesetz schon aus grundsätzlichen Erwägungen ebenso wenig eine Ewigkeitsgarantie zugesprochen werden, wie jedem anderen Gesetz. Wenigstens nach einigen Jahren, wohl frühestens nach Ablauf einer Legislaturperiode, müssen auch hier Änderungen möglich sein. Es wäre denkbar, eine solche Frist explizit gesetzlich zu regeln. Eine sachgerechtere Lösung ist aber die Wiedereinbeziehung des Volksgesetzgebers: Bei Änderungen an einem durch Volksentscheid angepassten oder geschaffenen Gesetz ist ein Referendum zu ermöglichen, zumindest innerhalb einer gewissen Frist und bei Zustandekommen entsprechender Unterstützung.
Fazit
Schon in unserem Wahlprogramm zur Abgeordnetenhauswahl 2011 haben wir eine Forderung deutlich nach vorn gestellt: Berlin muss mehr Demokratie wagen! Dies beinhaltet auch die Stärkung der Instrumente der direkten Demokratie. Das bedeutet heute insbesondere:
- Beteiligung an politischen Entscheidungen muss früh ansetzen – nicht nur am Ende, wenn berets alles entschieden ist!
- Der Zugang zu direkter Demokratie muss einfacher werden – Quoren gehören auf den Prüfstand und die Möglichkeiten des Internets zur Partizipation müssen genutzt werden!
- Das Volk soll befragt werden können – aber nicht anhand vorgegebener Ja-Nein-Entscheidungen, sondern mit der Möglichkeit, eigene Vorschläge einzubringen!
So kann direkte Demokratie zur Normalität in der Berliner Politik werden – nicht nur eine Notbremse, sondern eine ernsthafte Form der politischen Mitgestaltung.