Mehr direkte Demokratie wagen!
Mehr direkte Demokratie wagen!

Mehr direkte Demokratie wagen!

Ein Gastbeitrag von Regine Laroche, Mehr Demokratie e.V.

Als Sozialdemokratin ist es nicht ganz einfach, aber ich muss gestehen, manchmal kann ich diesen Satz von Willy Brandt nicht mehr hören „Mehr Demokratie wagen!“. Oft zitiert, oft als Platitude und warum überhaupt: Warum sollte mehr Demokratie ein Wagnis sein? Der Duden spricht von einem „gewagten, riskanten Vorhaben“, der „Möglichkeit des Verlustes, des Schadens, das mit einem Vorhaben verbunden ist.“ Das ist nicht wirklich der Kontext, über den ich im Zusammenhang mit Demokratie und Teilhabe sprechen möchte.

Dafür kann Willy Brandt – für den ich große Bewunderung hege – allerdings gar nichts. In seiner Zeit, bei seiner Regierungserklärung 1969, waren diese Wortwahl, diese Einstellung und die daraus folgenden Taten ein Meilenstein. Seine Regierung senkte, wie in seiner Rede angekündigt, das aktive Wahlalter von 21 auf 18 Jahre. So sollte eine breite Mitbestimmung für möglichst viele Bevölkerungsschichten an Form gewinnen. Mutig sollte vorangeschritten werden, in allen gesellschaftlichen Bereichen.

Wenn heute mühsam um Wahlrechtsreformen gerungen wird, die höchstens den Regierungsparteien nutzen, aber sonst niemandem, wenn Jugendlichen die Kompetenz zum „richtigen“ Wählen abgesprochen wird oder Volksentscheide auf Bundesebene mit dem Argument abgewehrt werden, dass Sachverhalte zu komplex seien und außerdem „das Volk“ anfällig sei für Populist*innen, wenn ängstlich am Status quo festgeklammert wird – dann verlieren Brandts Worte ihre eigentliche Bedeutung und klingen wie eine Leerformel.

Wie geht Direkte Demokratie?

Doch fangen wir von vorne an: worum geht es bei der direkten Demokratie – und wie geht sie? Im Bund gibt es Direkte Demokratie nicht. Aber in allen Bundesländern, mal besser mal schlechter geregelt, und das bereits seit über 25 Jahren. Was wir dort ganz genau beobachten können: Sie belebt das Parlament und bringt Themen auf die Agenda, denen sonst vielleicht kaum eine Bedeutung zugeschrieben worden wäre. Sie ist sachorientiert, nicht themenorientiert. Sie bringt die Menschen dazu, sich einzubringen. Ich erinnere mich zum Beispiel gern daran, wie in Berlin in nur in einem Monat 100.000 Menschen den Volksentscheid Fahrrad unterzeichnet haben. Und das handschriftlich auf Papierlisten! Meine erste eigene Unterschriftensammlung, für die ich auf der Straße war, war die für den Volksentscheid zum Energietisch, und ich weiß noch, wie überrascht ich über die vielen guten und inhaltlich fundierten Gespräche war.

In der Grundstruktur sind die Verfahren der Volksgesetzgebung in allen Bundesländern ähnlich. Es geht in drei Stufen bis zum Volksentscheid. Erste Stufe: Antrag auf Zulassung eines Volksbegehrens. Hier werden vergleichsweise wenige Unterschriften verlangt, die eine Initiative sammeln muss. Es ist der erste Testlauf: Ist ein Thema relevant genug? Wenn die nötigen Unterschriften erreicht sind, können die Regierung oder das Parlament den vorliegenden Gesetzentwurf verfassungsrechtlich prüfen lassen. Werden keine Grund- oder Minderheitenrechte verletzt, ist die Prüfung erfolgreich und es geht in Stufe zwei, die große Unterschriftensammlung. In einem Vorschlag von Mehr Demokratie für Direkte Demokratie auf Bundesebene sind dies zum Beispiel 1 Million Unterschriften. Ist dies erfolgreich, folgt die dritte Stufe 3: Die Abstimmung. Zwischen den Stufen hat das Parlament übrigens immer wieder Zeit, den Vorschlag der Initiativen zu übernehmen und eine Abstimmung so überflüssig zu machen.

Das beste Mittel gegen Populist*innen – mit den richtigen Regeln

Das ganze Verfahren dauert so mehrere Monate bis Jahre. Genügend Zeit also für gesellschaftliche Diskussion und Meinungsbildung – ein wichtiges Argument übrigens gegen die Befürchtung, Populist*innen könnten „das Wahlvolk“ hinters Licht führen. Zeit für Argumente ist das beste Mittel gegen populistische Agitation.

Essentiell ist aber auch, dass die Regeln für die Verfahren fair sind. In manchen Bundesländern sind die Hürden für die Unterschriftensammlung so hoch, dass das Instrument praktisch gar nicht genutzt werden kann. In Berlin beispielsweise wurden deshalb gerade durch eine Reform des Abstimmungsgesetzes deutliche Verbesserungen am Instrument der Direkten Demokratie vorgenommen: Feste Fristen für die Verwaltung zur Zulässigkeitsprüfung wurden eingezogen, Teile der Kosten von den meist ehrenamtlichen Initiativen sollen erstattet werden, Wahlen und Abstimmungen müssen nun auf einen Termin gelegt werden, womit die Mindest-Abstimmungsbeteiligung besser erreicht wird (die Menschen gehen ja sowieso schon zur Urne).

Die Erfahrungen in den Bundesländern zeigen uns: Mehr Demokratie ist kein Wagnis. Ein Wagnis ist sie nur dann, wenn die Regeln schlecht gemacht sind und dadurch Politikverdruss entsteht. Wenn zum Beispiel Volksbegehren durch die Verwaltung nicht ernst genommen werden. So auch bereits geschehen in Berlin: In der letzten Legislatur warteten Volksbegehren im Schnitt ein Jahr auf das Ergebnis ihrer Zulässigkeitsprüfung. Das lässt bei Initiativen das Gefühl zurück, dass ihre Anliegen nicht ernst genommen werden.

Warum sollte es mehr Demokratie geben?

Ich bin fest davon überzeugt, wir brauchen dringend mehr Teilhabe und Direkte Demokratie, und zwar in vielfältigen Formen. Es muss nicht immer gleich der Volksentscheid sein. Der Mix an Instrumenten macht es, aus klassischen Bürgerbeteiligungs-Formaten oder zum Beispiel Bürgerräten, die sich in Deutschland gerade etablieren. Was zu Brandts Zeiten noch in Stein gemeißelt war, die starke Bindung an die Parteien, an die Kirchen, Gewerkschaften, das alles gibt es nicht mehr oder ist im Begriff sich vollständig zu wandeln. Die Möglichkeiten sich zu informieren sind vielfältiger. Die Menschen sind unabhängiger geworden, Werte haben sich verändert. Wir können darüber jammern und darüber sprechen, dass früher alles besser war. Oder wir können unsere Demokratie anpassen und öffnen. Alle sprechen über Politikverdrossenheit – tun wir etwas dagegen! Das Rezept liegt seit Jahren vor.


Anmerkungen
Legende zum Foto:

Um die Zukunft nicht den Märkten zu überlassen und die Demokratie zu retten, demonstrierten am 10. Oktober 2015, in Berlin, 250.000 Menschen gegen die geplanten Freihandelsabkommen  „TTIP und Ceta“ der EU mit den USA und Kanada.

Mehr zum Thema siehe:
Peira-Matinée:
Mehr Demokratie wagen!

Sonntag, 25. Oktober 2020, 11 Uhr
Café Weltgeist (im Gebäude der HU Berlin)
Dorotheenstr. 24 (am Hegelplatz)
10117 Berlin

Ein Gespräch mit
Regine Laroche vom Landesvorstand Mehr Demokratie e.V. Berlin-Brandenburg

Moderation
Prof. Dr. Martin Haase
Peira – Gesellschaft für politisches Wagnis

 

Ein Kommentar

  1. Heiko Schröder

    Mehr Demokratie oder mehr Bürgerräte, oder beides mehr? Die Argumente, dass es auch zu komplexe Zusammenhänge (Batterien oder Wasserstoff? Offshore wind oder solar?) gibt und dass wir keine Todesstrafe (darüber abzustimmen wäre auch heute ein Wagnis) geben sollte, muss man ja auch ernst nehmen.

    Vielleicht sollte man versuchen zu definieren, in welcher Situation man sich mehr Demokratie (Volksabstimmung) wünscht und wann Bürgerräte (mit Beratung durch Fachleute) ein besseres Mittel sind, sich guten Entscheidungen zu nähern.

    Vielleicht wandelt sich unsere Gesellschaft ja weg von Parteien hin zu Sachverständigen (die wir wählen) für einzelne Bereiche – vielleicht können wir so mit mehr Kompetenz Entscheidungen treffen. Vielleicht kann „Liquid democracy“ bei der Wahl der Fachleute genauso helfen wie bei Volksentscheiden. Aber vielleicht sind wir dafür noch nicht gut genug digitalisiert.

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