In den zusammengefasst als Reichspogromnacht bezeichneten Tagen zwischen dem 7. und dem 13. November 1938 überfielen Sturmtrupps von SA und SS jüdische Geschäfte und Gotteshäuser im gesamten Deutschen Reich. Mehrere hundert Menschen wurden getötet, über 20.000 verhaftet. Insgesamt wurden 267 Synagogen niedergebrannt, 7500 Läden verwüstet und geplündert. Die größte Synagoge Deutschlands in der Berliner Rykestraße überstand diese Nacht nur, weil befürchtet wurde, bei einem Feuer könnten auch die umstehenden „arischen Gebäude“ beschädigt werden.
Die Reichspogromnacht ist im Nachhinein als Zäsur zu sehen, nach der aus der Diskriminierung der Juden in Deutschland eine systematische Verfolgung wurde, die später ihr ungeheuerliches, brutales Ausmaß im Holocaust fand. Vor diesem Hintergrund wird man wohl noch fragen dürfen, wie antisemitisch ist Deutschland heute?
„Seit rund 30 Jahren“, so Dr. Juliane Wetzel vom Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin, „ergeben Forschungen, dass etwa 20 Prozent der Deutschen gefestigte antisemitische Einstellungen besitzen. Je älter die Menschen, umso höher sind die Werte. Während der Debatte um die Beschneidung zeigte sich bei einer großen liberalen Wochenzeitung, dass rund 30 Prozent der anonymen Leserkommentare problematische Inhalte vertraten.“
Judenfeindlichkeit gibt es mitnichten nur bei Neonazis, der Antisemitismus kommt aus der Mitte der Gesellschaft, wie es jüngere Forschungen belegen. Es ist zu beobachten, dass militante Rechtsextremisten inzwischen unverhohlen zur Schändung jüdischer Einrichtungen aufrufen und Juden offen bedrohten. Wie z. Bsp. im Berliner Stadtteil Friedenau im Bezirk Tempelhof– Schöneberg. Dort häufen sich die antisemitischen und rechtsextremistischen Straftaten. Ziel der permanenten Angriffe war und ist das Gedenken an die während des Nationalsozialismus ermordeten Menschen. Im März 2013 wurden vier Stolpersteine innerhalb von sechs Stunden nach deren Einlassen in den Boden und 40 weitere bereits vorhandene Stolpersteine durch Farbschmierereien geschändet. Im Juni berichtete die Berliner Morgenpost sogar von 60, mit schwarzer Lackfarbe, beschmierten Stolpersteinen. Mitte Mai wurden auf die Wohnungstür einer Bürgerin, die sich für das Gedenken engagiert, antisemitische Parolen geschmiert. Außerdem wurde versucht ihren Briefkasten zu sprengen. Anfang August wurde die Gedenktafel für Vergessene jüdische Architekten geschändet. „Wir sind entsetzt und zornig, dass diese Serie nicht abreißt“, sagt Lala Süsskind Vorsitzende des Jüdischen Forums für Demokratie und gegen Antisemitismus (JFDA) im Juni 2013. „Die Aggressionen haben eine neue Dimension erreicht. Das ist eine Herausforderung für die Demokratie und wir sind bereit, uns gemeinsam gegen diese Verbrecher zu stellen.“ Unter dem Motto „Gemeinsam agieren statt reagieren“ führte das Jüdische Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus gemeinsam mit der Freien Universität Berlin im Oktober 2013 eine erste Veranstaltung durch.
Vor dem Hintergrund, dass der Abbau antisemitischer Vorurteile trotz Gedenkstättenpädagogik und schulischer Vermittlung des Holocaust nicht erreicht wurde, kommt es nun darauf an, für die dritte, und nächste Generationen nach dem Holocaust, neue Methoden und Formate zur der Vermittlung des Themas zu entwickeln.
Um antisemitischen, fremdenfeindlichen und rechtsextremen Tätern offensiv zu begegnen, wird Peira im nächsten Jahr Bündnispartner suchen, um gemeinsam neue Veranstaltungsformate zu kreieren und zu erproben.
Um eine erste Grundlage für einen Diskurs über und gegen den Antisemitismus zu legen, stellen wir hier den von einer unabhängigen Expertenkommission im Auftrag des Deutschen Bundestages erstellten Bericht „Antisemitismus in Deutschland – Erscheinungsformen, Bedingungen, Präventionsansätze“ zum Download zur Verfügung. Der Bericht wurde am 17 Oktober 2012 von der Bundesregierung dem Deutschen Bundestag vorgelegt.
Peira – Rainer Thiem
Download des Berichts: Antisemitismus in Deutschland – Erscheinungsformen, Bedingungen, Präventionsansätze