Der Zerfall des Kapitalismus: Wie soll es weitergehen?
Der Zerfall des Kapitalismus: Wie soll es weitergehen?

Der Zerfall des Kapitalismus: Wie soll es weitergehen?

Ein Gastbeitrag von Frank Nöthlich

Menschen können sowohl verheerenden Überfluss als auch schöne Vollkommenheit erschaffen. Ja, wir Menschen können uns einerseits gnadenlos ausbeuten, uns gegenseitig umbringen und die Grundlagen für unser eigenes Dasein zerstören. Die Verfügbarkeit dieser negativen Kompetenzen hat die Spezies ausreichend nachgewiesen.

Andererseits, und auch diese Skills sind bekannt, kann sich der Mensch in die Zusammenhänge der Wirklichkeit hineindenken, sodass er in der Lage ist, sich die natürlichen Gegebenheiten eigen zu machen; sie zu bearbeiten, seine Bedürfnisse zu befriedigen und die Welt zu unserem aller Wohl zu verändern. Gemeinsam können wir das Ökosystem unseres Planeten, ohne den unser Dasein nicht möglich wäre, vor dem Verfall bewahren. Und genau darum geht es bereits.

Wie ist die Lage?

Im Rahmen der Globalisierung sind profitgierige Imperien entstanden, die nach neoliberaler Logik immer stärker wachsen wollen und dies auch müssen. Denn nur aus dem Wachstum heraus, auf dem Papier ausgedrückt in Zahlen, in der realen Welt unter anderem erkennbar durch die Überproduktion nutzloser Waren, schädlicher Produkte und der Erfindung sinnbefreiter Dienstleistungen, entsteht die Legitimation. Man kann auch sagen, es geht um die Vortäuschung der Legitimation, weil es eben nicht legitim ist, die Natur und letztlich die Spezies Mensch als Teil des Ganzen zu zerstören.

Aber genau das tun die Imperien des Profits. Sie beuten sowohl die wirtschaftlich schwächeren Länder gnadenlos aus, als auch die eigene Bevölkerung.

Die Triebkraft der kapitalistischen Wirtschaftsweise ist das finanzwirtschaftliche Kalkül, nicht aber die in das Ökosystem harmonisch eingebrachten Wirtschaftskreisläufe, in denen die lebensnotwendigen Produkte und Leistungen für die Menschen hergestellt und erbracht werden. Das rächt sich.

Im Schatten der Diskussion über den Virus berichtete die Tagesschau am 14. April 2020 unter der Überschrift IWF zu globaler Rezession: „Wesentlich schlimmer als Finanzkrise“ über den Verfall der kapitalistischen Wirtschaftsweise [1].

Die Welt stünde wegen der Corona-Pandemie vor einer epochalen Rezession. Der Internationale Währungsfonds (IWF) würde mit der schwersten globalen Rezession seit fast hundert Jahren rechnen. Auch für Deutschland und die Eurozone sei die Prognose für dieses Jahr düster. Zitiert wird die IWF-Chefökonomin Gita Gopinath. Der prognostizierte Wirtschaftseinbruch werde „die schlimmste Rezession seit der Großen Depression sein und wesentlich schlimmer als die globale Finanzkrise von 2008 bis 2009“.

Die Aussage, dass es 2021 zumindest Hoffnung auf eine Erholung gibt, mag punktuell stimmen, global ist sie anzuzweifeln. Spätestens dann, wenn man sich mit einer Zahl konfrontiert, die jüngst die International Labor Organization (ILO) veröffentlichte, sollte die Diskussion über das Ende des Kapitalismus kein Tabu mehr sein.

Im Bericht der ILO heißt es, dass derzeit weltweit 195 Millionen Vollzeitarbeitsplätze in Gefahr seien, also verschwinden könnten. Dies würde rund 6,7 Prozent der global Beschäftigten treffen. Nicht zu vergessen sind all jene Menschen, Familien und Kleinunternehmer, deren Existenz eben genau von dieser Erwerbsarbeit abhängt sowie das Heer der Abermillionen, die sich ihr Dasein im informellen Sektor erarbeiten. Dieser wurde durch die Maßnahmen zur Eindämmung der Verbreitung des Corona-Virus vor allem im globalen Süden praktisch von jetzt auf gleich lahmgelegt.

Die ILO schreibt, dass insgesamt 1,25 Milliarden Arbeitnehmer in Bereichen beschäftigt sind, die stark von „drastischen und verheerenden“ Entlassungen und Kürzungen der Löhne bedroht werden. Viele dieser Arbeiter üben schlecht bezahlte und gering qualifizierte Tätigkeiten aus. Ein plötzlicher Einkommensverlust hätte verheerende Folgen.

Prognosen für die USA und die Eurozone

In die Zukunft zu schauen, schadet nicht, wenn man eine Vorstellung davon entwickeln will, wie diese gestaltet sein soll. Momentan wird von der Rückkehr zu einer „neuen Normalität“ gesprochen, so als würde an die Stelle der „alten Normalität“ mit ihren Widersprüchen, sozialen Verwerfungen, Kriegen und der Umweltzerstörung nun etwa rücken, was besser sei. Was auch immer auf uns wartet, der Weg führt durch das soziale Fegefeuer.

Was berichtete die Tagesschau? Der IWF rechnet in 2020 mit einem Schrumpfen des Bruttoninlandsproduktes der USA um 5,9 Prozent. Für 2021 wird wiederum ein Wachstum von 4,7 Prozent erwartet. Und weiter heißt es:

In Deutschland wird die Wirtschaft dem IWF zufolge im Vergleich zum Vorjahr um sieben Prozent schrumpfen, in Italien sogar um 9,1 Prozent. In der Eurozone werde die Wirtschaftsleistung demnach um 7,5 Prozent schrumpfen. Auch für die Eurozone hatte der IWF im Januar noch für das Jahr 2020 ein Wachstum von 1,3 Prozent prognostiziert. Für 2021 rechnet der IWF für die 19 Länder der Eurozone jedoch mit einer Erholung und einem Wirtschaftswachstum von 4,7 Prozent – vorausgesetzt, die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie werden im zweiten Quartal 2020 unter Kontrolle gebracht.

Was sagen uns diese Zahlen? Alles wird wieder gut? Aber für wen? In den USA explodiert die Arbeitslosigkeit. Wie die Pest galoppiert sie durch das Land des Raubtierkapitalismus: Innerhalb von kaum vier Wochen haben rund 22 Millionen Menschen ihre Jobs verloren [2].

So oder so wird sich auch in Europa die Frage stellen, wie mit der massenhaften Erwerbslosigkeit umgegangene wird, die als wirkliche Herausforderung für die sozialen Gebilde zu verstehen ist. Kaum eine Woche nach den Veröffentlichungen der Tagesschau schreibt das Manager Magazin über eine Prognose von McKinsey [3].

(…) Die Arbeitslosigkeit in Europa könnte sich in den kommenden Monaten fast verdoppeln. Nach Schätzungen des Beratungsunternehmen McKinsey liefen 59 Millionen Arbeitsplätze Gefahr, durch dauerhafte Einbußen wie Lohn- und Arbeitsstundenkürzungen infolge der Coronavirus-Pandemie wegzufallen.

Die kapitalistischen Zentren sind von einem langfristigen Trend zur Wachstumsschwäche gekennzeichnet, der schon Jahrzehnte anhält. Immer mehr Kapital hat Schwierigkeiten sich zu verwerten. Es erweist sich damit als überflüssig. Speziell in Europa kommen als weitere Krisenursache die großen Unterschiede bei der Leistungsfähigkeit der nationalen Ökonomien im einheitlichen Währungsraum des Euro hinzu.

Der globale Charakter kapitalistischer Standortkonkurrenz sowie die heute tendenziell unbegrenzte Kapital- und Standortmobilität führen zu Einschnitten in den Nationalökonomien sowie zu Veränderungen bisheriger Wirtschaftsstrukturen und Steuerungsmechanismen. Unsicherheiten der Wirtschafts- und Sozialentwicklung spitzen sich zu und die Zerstörung des Ökosystems wird in Kauf genommen.

Möglichkeiten der Produktivkraft-Entwicklung werden einseitig für radikale Kostensenkungen und Einsparungen von Arbeitsplätzen eingesetzt, um die Kapitalverwertung zu verbessern und die internationalen Konkurrenzpositionen des Kapitals zu stärken.

Überall in der kapitalistischen Welt erfolgt die relative Loslösung der monetären Sphäre von der Realökonomie. Die hohen Renditen der Geldanlagen, die Labilität und die Erschütterungen der internationalen Finanzmärkte sowie anhaltende Währungsturbulenzen beeinträchtigen die realwirtschaftliche Entwicklung.

In den Hintergrund treten Abrüstung und Friedenssicherung. Die Erhaltung der Umwelt und soziale Mindeststandards werden geopfert für geostrategische Einflusszonen, Rohstoffe, billige Arbeitskräfte und Absatzmärkte. Auf die Herausforderungen und globalen Probleme antworten die Regierungen und die Unternehmerverbände mit dem Angriff auf den Sozialstaat. Extern verstärken die führenden kapitalistisch wirtschaftenden Staaten ihre Bemühungen, politische und militärische Präsenz aufzubauen, um die (noch) vorhandene ökonomische Vormachtstellung zu erhöhen, während sie im Inneren bereits zerfallen.

Denn gegenwärtig wirken auch objektive Gesetzmäßigkeiten, wie die für die kapitalistische Produktionsweise existenziell notwendige erweiterte Reproduktion des Produktionsprozesses oder der tendenzielle Fall der Profitrate, die im Verbund die kapitalistische Wirtschaftsweise unaufhaltsam zum Konkurs führen.

Die revolutionäre Veränderung

Welche Veränderungen können strategisch und müssen taktisch im revolutionären Umwälzungsprozess, der zu sozial gerechten, ökologisch vertretbaren und fortschrittlich produktiven Gesellschaftsverhältnissen führt, aufgezeigt und durchgesetzt werden?

Was wird kommen?

1. Überall in der Welt müssen sich demokratische Gesellschaftsverhältnisse entwickeln und staatliche Institutionen zu dienstleistenden Verwaltungsorganen werden.

2. Steuern und Abgaben müssen dort, wo man sie erarbeitet, für das Nützliche investiert, für soziale Gerechtigkeit eingesetzt und für kulturelle Bedürfnisse der Einzahlenden ausgegeben werden.

3. Jedem Menschen muss es möglich sein, mittels des von ihm selbst erarbeiteten Gewinns im Prozess seines konkret ihm möglichen Handelns und entsprechend seiner bio-psycho-sozialen Bedürfnisse und Vorstellungen sein Leben zu gestalten.

4. Um die grundlegenden Wirtschaftskreisläufe von Leistungserbringung, Verbrauch und Wiederbelebung in zusammenwirkenden Wirtschaftsregionen aufrecht zu erhalten, darf der geldwerte Gewinn aller Betriebswirtschaften nur in Kreditinstituten eingelagert werden, deren Geschäftsbereich in einem geschlossenen Wirtschaftsraum liegt. Geschäfte darüber hinaus müssen durch eine demokratisch kontrollierte Zentralbank vermittelt werden.

5. Kreditinstitute müssen künftig unter Leitung demokratisch kontrollierter Zentralbanken ihre Darlehen zielgerichtet (mit moderaten und jeweils entsprechend stimulierenden Zins- und Tilgungsraten) vergeben an in erster Linie auf Nützlichkeit und mit dieser auf Gewinn zum zwischenmenschlichen Leistungsaustausch orientierte produktive Betriebswirtschaften sowie Dienstleistungsunternehmen. So würden mit Kompetenz und Verantwortungsbewusstsein tätige und dadurch legitimierte Eigentümer von Produktionsmitteln durch fließendes Geld unterstützt beziehungsweise deren Wirken vielfach überhaupt erst ermöglicht.

6. Energiebereitstellung muss weltweit für alle Menschen demokratisch stimuliert, gewährleistet, verantwortet und kontrolliert werden. Die dazu (und die zur Gewinnung von Stoffen, Materialien und Wirkstoffen) notwendigen natürlichen Ressourcen müssen zu garantiertem Eigentum der Menschheit als ganzes werden. Dazu bedarf es eines gerechten, sich von national bis schließlich weltweit gültig entwickelnden Bodennutzungsrechts.

7. Die großtechnische Verarbeitung von Rohstoffen zu hochwertigen Materialien oder Bauelementen muss künftig in ebenfalls weltweit demokratisch zur Produktion stimulierten und kontrollierten, vollautomatischen Betrieben an den geeignetsten, dem Bodennutzungsrecht entsprechenden Standorten geschehen. Vollautomatisch funktionierende Wirtschaftseinheiten brauchen nur Wachstum zur qualitativen Verbesserung ihrer Produkte, aber keine ständig wachsende Profitrate. Kleine und mittelständige Betriebswirtschaften müssen durch Be- und Verarbeitung hochwertiger Materialien, Wirkstoffe und Bauelemente zu Gebrauchswerten beziehungsweise durch Erbringen von Dienstleistungen geldwerte Gewinne erarbeiten und sozial gerecht verteilen. So können proportional ausgewogene Wirtschaftskreisläufe zwischen Produktion, Distribution, Zirkulation, Konsumtion und Reproduktion und sowohl die Befriedigung der existenziell für uns Menschen notwendigen Bedürfnisse, wie Beköstigung, Bekleidung und Behausung, als auch alle unsere kulturellen und den Lebensgenuss befriedigenden Bedürfnisse durch fließendes Geld gewährleisten werden.

8. Bildung, Erziehung und Wissenschaft muss in staatlich bereitgestellten und verwalteten Einrichtungen unter demokratischer Kontrolle stattfinden und allen Menschen zugänglich sein. Grundlagen- und angewandte Forschung muss künftig in gesamtgesellschaftlicher, demokratisch kontrollierter Verantwortung geleistet und deren Ergebnisse ebenso verwertet werden. Das daraus hervorgehende Wissen muss allen Menschen zugänglich sein.

9. Bildung und Erziehung muss in ihren Zielstellungen darauf gerichtet sein, dass jeder Mensch seine Begabungen und Talente erkennen und den auf deren Grundlage entstehenden Neigungen im Lernprozess nachgehen kann; und dass er dementsprechend zu seinem eigenverantwortlichen Tätigsein befähigt wird.

Uns Menschen ist die Pflicht auferlegt, kreativ zu sein, denn unsere Bestimmung, die uns unser Lebenswille auferlegt, ist es, die sich zufallsnotwendig ereignende, natürliche Wirklichkeit in unserer bewusst und vernünftig gestalteten, Vervollkommnung und Schönheit erstrebenden, kulturellen Wirklichkeit aufzuheben und so unsere Welt in ihrer Ganzheit zu bewahren.

Eine rhetorische Fragestellung

Ist die kapitalistische Wirtschaftsweise der Beginn vom Ende des menschlichen Dasein?

Sowohl alles was in der Natur geschieht, als auch alles, was in der menschlichen Gesellschaft etwas bewirkt ist in Bewegung. Und alles was sich in Bewegung befindet, verändert sich ständig beziehungsweise kann verändert werden. Geschichte ist die in der Vergangenheit passierte, gegenwärtig wirkende und die Zukunft bedingende Lebenstätigkeit der Menschen und das Lebendsein an sich ist ein Vorgang, der immer gegenwärtig geschieht. Das gestern Gelebte kann heute noch sein, aber nicht so, wie es war. Das Menschsein entwickelt sich im Spannungsfeld der Emanzipation und der Integration der Menschheit aus ihrer und in ihre natürliche Wirklichkeit sowie jedes Einzelnen von seiner und in seine mitmenschliche Gemeinschaft.

Besser wäre es also zu fragen, in welche Richtung müsste sich die Wirtschaftsweise bewegen, um die durch sie immer mehr eskalierenden Missstände in der Welt zu überwinden.


Quellen und Anmerkungen

[1] Tagesschau (14. April 2020): IWF zu globaler Rezession „Wesentlich schlimmer als Finanzkrise“. Auf https://www.tagesschau.de/wirtschaft/corona-krise-iwf-101.html (abgerufen am 20.4.2020).

[2] Tagesschau (16. April 2020): Coronakrise in den USA 22 Millionen Arbeitslose in vier Wochen. Auf https://www.tagesschau.de/wirtschaft/boerse/arbeitslosigkeit-usa-103.html (abgerufen am 20.4.2020).

[3] Manager Magazin (20. April 2020): 59 Millionen Arbeitsplätze in Europa bedroht. Auf https://www.manager-magazin.de/politik/europa/mckinsey-59-millionen-arbeitsplaetze-in-europa-bedroht-a-1306379.html (abgerufen am 21.4.2020).

PEIRA bedankt sich bei Frank Nöthlich für die Zustimmung zur Zweitverwendung seines Artikels, der ebenfalls am 21.04.2020  bei NEUE DEBATTE Journalismus und Wissenschaft von unten erschien.

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