Gastbeitrag: Ein Gespräch von Anne-Sophie Friedel mit Gilles Kepel über die Wurzeln des Terrorismus in Frankreich
Herr Professor Kepel, Frankreich wird von dschihadistisch motivierten Terroranschlägen getroffen, und Täter sind in den meisten Fällen Franzosen. Haben Sie diese Situation kommen sehen?
Was wir gegenwärtig erleben, ist für mich keine wirkliche Überraschung. Seit 2005 verfolge ich die Entwicklung der „dritten Generation des Dschihadismus“, wie ich sie nenne, die junge europäische Muslime als Akteure rekrutiert, um vor allem in Europa Anschläge zu verüben. Ihr Ziel ist es, die westlichen Gesellschaften zu spalten und in ihrer Mitte Enklavenkriege zu entfachen, die in eine Art Bürgerkrieg münden, um auf den Ruinen eines zerstörten Europa das Kalifat zu errichten.
Damals veröffentlichte der syrische Ingenieur Abu Musab al-Suri den „Aufruf zum weltweiten islamischen Widerstand“ im Internet, ein 1600 Seiten starkes Pamphlet, in dem er die Idee eines netzwerkartig strukturierten und von unten organisierten Dschihadismus formulierte, der einfache Mittel nutzt, etwa ein Auto, um Leute zu überfahren, ein Rohrstück, ein Küchenmesser.
Wie kam es zu dieser strategischen Anpassung?
Die erste Phase des modernen Dschihadismus begann mit der sowjetischen Invasion 1979 in Afghanistan und dem Kampf der Mudschaheddin. Nach ihrem großen Erfolg, dem Rückzug der Roten Armee 1989, versuchten die dschihadistischen Kämpfer, in ihren Heimatländern die dortigen „ungläubigen“ Regierungen zu stürzen. Doch in Indien, Algerien, Ägypten und Bosnien scheiterte dieser Dschihad.
Osama bin Laden und Nabil Sahraoui, die beide in Afghanistan gegen die Sowjets gekämpft hatten, erklärten sich dieses Scheitern dadurch, dass die Massen sich aus Angst nicht dem Kampf der Dschihadisten gegen die lokalen Machthaber angeschlossen hatten – aus Angst vor den westlichen Regierungen, die diese Regime unterstützten, insbesondere die USA. Daraus folgerten sie, dass der Dschihad nicht mehr auf den nahen, sondern auf den fernen Feind zielen müsse.
Und das führte zu 9/11.
Genau, das war der Höhepunkt der zweiten Phase. Der Angriff sollte die USA so provozieren, dass sie Truppen nach Afghanistan und in den Irak entsenden, wo es zu einem neuen Vietnam für die Amerikaner kommen sollte. Alles war bis ins kleinste Detail geplant. Al-Qaida ist pyramidal, also von oben nach unten organisiert: Bin Laden bezahlte die Flugtickets für die Attentäter, das Flugtraining und so weiter – und am 11. September lief dann auch alles wie am Schnürchen. Doch wieder kam es nicht zu einer Mobilisierung der Massen hinter den Dschihadisten. Das war der Zeitpunkt, zu dem sich die Idee eines Dschihadismus mit einer netzwerkartigen Struktur entwickelte, der weder auf den nahen noch auf den fernen Feind zielt, sondern auf Europa, das genau dazwischen liegt.
Warum Europa?
Die neuen Dschihadisten betrachten Europa als den Schwachpunkt des Westens. Es ist nicht militärisch organisiert, verfügt über große muslimische Bevölkerungsgruppen und befindet sich in geografischer Nähe zur islamischen Welt.
Welche Faktoren haben diesem Dschihadismus der dritten Generation den Weg geebnet?
Abu Musab al-Suri stellte sein Manifest im Januar 2005 online. Drei Wochen später wurde Youtube gegründet, und damit begann ein neues digitales Zeitalter: Seitdem kann jeder selbst Inhalte produzieren und sich über das Internet vernetzen. So hat der Daesh-Mann Rachid Kassim über den verschlüsselten Messenger-Dienst Telegram aus der Ferne die Attentate von Magnanville, Nizza und Saint-Etienne-du-Rouvray koordiniert und die drei jungen Frauen instruiert, die im September eine Autobombe vor dem Gare de Lyon in Paris zünden wollten.
Diese Kulturrevolution im Dschihadismus haben die Geheimdienste völlig verpasst. Sie haben sie überhaupt nicht ernst genommen und lange geglaubt, die dezentral organisierten Zellen würden sich gegenseitig auslöschen.
Auch die Inkubationswirkung der Gefängnisse haben sie lange unterschätzt. Dort vollzog sich die Verbindung zwischen der zweiten und der dritten Dschihadistengeneration. Ein Beispiel: Der Al-Qaida- Aktivist Dschamel Beghal, der 2001 die US-Botschaft in Paris in die Luft sprengen wollte, sollte während seiner Haft in Fleury-Mérogis, Europas größtem Gefängnis im Süden von Paris, vollkommen isoliert sein, doch durch das Fenster konnte er mit den Insassen der Zelle unter seiner kommunizieren: Chérif Kouachi, ein angehender Dschihadist, der verhaftet worden war, als er in den Irak reisen wollte, und Amedy Coulibaly, ein Kleinkrimineller aus der südlichen Pariser banlieue – zwei der Attentäter vom Januar 2015.
Ein weiterer Faktor ist die Verbreitung des Salafismus in Europa. Während des Golfkrieges 1990 unterstützten viele europäische Muslime Saddam Hussein gegen die Saudis. Daraufhin entsandten diese salafistische Missionen nach Europa, die die dortigen muslimischen Bevölkerungen „wahhabisieren“ und zu Verbündeten machen sollten. Der Salafismus läuft auf einen totalen kulturellen Bruch mit den Sitten der liberalen westlichen Gesellschaft hinaus. Das führt nicht zwangsläufig zu Gewalt, schafft aber das Fundament, auf dem der Übergang zu Gewalt sich vollziehen kann, wenn ein bestimmter Imam oder ein bestimmtes soziales Netzwerk jemanden erreicht, der entsprechend vorgeprägt ist.
Wie konnte der Salafismus in Frankreich Fuß fassen?
Das hat er vor allem unter den Kindern von muslimischen Einwanderern, die in den großen Brennpunktvierteln Frankreichs mit 40 Prozent Jugendarbeitslosigkeit Anomie und Perspektivlosigkeit erleben. Wer nicht über die richtigen Netzwerke verfügt, ist völlig marginalisiert, und das erleben viele dieser jungen Leute so. In ihrem Umfeld sehen sie, dass Schulbildung nichts bringt – leicht werden dann die damit verbundenen Werte wie das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Der Salafismus liefert hier eine ideale Alternative zum westlichen Rechts- und Gesellschaftssystem, das angesichts der Situation dieser jungen Menschen total daneben zu liegen scheint.
Diese Ideologie schlägt aber nicht nur Kinder von Einwanderern in ihren Bann. Angeblich sind nahezu ein Viertel der Anhänger des sogenannten Islamischen Staates Konvertiten.
Das ist in der Tat der höchste Anteil, den ich in den 35 Jahren meiner Arbeit bei einer solchen Bewegung festgestellt habe.
Wie erklären Sie sich die Attraktivität des Salafismus bis hin zum Dschihadismus für diese jungen Leute?
Bei der Betrachtung der Einzelfälle ist mir besonders das Fehlen der Väter aufgefallen. Häufig ist die alleinerziehende finanzschwache Mutter in ein benachteiligtes Viertel gezogen, in dem nun einmal ein Großteil der Jugendlichen Muslime sind. Die Kinder haben sich dort resozialisiert und innerhalb ihrer neuen Peergroup eine Möglichkeit gefunden, gegen die Anomie zu kämpfen, in ihrem Fall die Abwesenheit der Vaterfigur: Es herrscht nun das Gesetz der Peers, und das ist gegebenenfalls die Scharia in ihrer salafistischen Variante, die sich strukturell gegen die empfundene Anomie in der Gesellschaft richtet.
Ist der Dschihadismus also in gewisser Weise auch eine Art Protestbewegung von Orientierungslosen?
Der Dschihadismus ist Ausdruck einer Ablehnung der Gesellschaft, ja. Aber er beschränkt sich nicht darauf, denn er wird genährt von einer Ideologie und von dem Wunsch, die Menschheit durch Gewalt und durch die Rückkehr zu einem vollkommen aus dem historischen Zusammenhang gerissenen Modell des 7. Jahrhunderts zu verändern, das vom Salafismus getragen wird. Paradoxerweise könnte man meinen, dieses Modell sei revolutionär, doch auf kultureller und moralischer Ebene ist es zutiefst reaktionär.
Letztendlich ähneln sich alle revolutionären Bewegungen in gewisser Weise: Wenn man zum Beispiel Videos und konspirative Traktate der rechtsextremen Gruppierung um Alain Soral und dschihadistische Propaganda vergleicht, stellt man große Ähnlichkeiten bei Sprache und Ikonografie fest. Aber sie werden nicht von den gleichen Ideen getragen.
Darüber führen Sie eine recht hitzige Debatte mit dem Politikwissenschaftler Olivier Roy.
Er reduziert den Dschihadismus auf ein nihilistisches Phänomen und ist der Auffassung, der Islam werde von Menschen instrumentalisiert, die sich überhaupt nicht auskennen. Aber wenn Leute zu Dschihadisten werden, dann sind sie von der Atmosphäre, von der „Salafisierung“ der Welt eingenommen.
Es ist essenziell, das zu verstehen. Daher ist es auch so wichtig, die arabische Sprache zu beherrschen, um diese Ideologie lesen zu können und die kulturelle Dimension zu erfassen.
Wenn der Salafismus in Frankreich so stark werden konnte, haben die etablierten französischen muslimischen Institutionen also an Einfluss verloren?
Die Verbreitung des Salafismus in Frankreich hat sich nach den Vorstadtkrawallen 2005 und mit dem Heranwachsen der jungen Generation französischer Muslime beschleunigt.
Zuvor war der islamische Diskurs in Frankreich etwa seit den 1980er Jahren vor allem von den sogenannten blédards dominiert, die aus dem Maghreb nach Frankreich eingewandert und von den Muslimbrüdern geprägt waren. Diese Generation hat etwa mit der Vereinigung der islamischen Organisationen in Frankreich (Union des organisations islamiques en France, UOIF) versucht, eine muslimische Gemeinschaft aufzubauen, die mit dem französischen Staat im Dialog steht.
Doch viele der jungen französischen Muslime von heute haben das Gefühl, dass Frankreich ihnen letztlich keine Chance gibt. Sie sind außerstande, sich mit der Gesellschaft zu identifizieren, und lehnen den Staat ab.
Speist sich daraus auch der Hass, der Frankreich ins Fadenkreuz der Dschihadisten gerückt hat?
Das ist zumindest ein Faktor. Ein anderer ist das „retrokoloniale Phänomen“, eine starke Abneigung gegen die ehemalige Kolonialmacht Frankreich, die in den Augen vieler die Elterngeneration herabgesetzt hat. Man muss sich in Erinnerung rufen, dass Mohammed Merah die jüdischen Kinder und ihren Lehrer in der Schule Ozar Hatorah in Toulouse am 19. März 2012 erschossen hat, also auf den Tag genau 50 Jahre nach dem Waffenstillstand, mit dem der Algerienkrieg endete. Damit hat er den Krieg gegen Frankreich auf dem Boden der ehemaligen Metropole wieder aufgenommen – und seine Mutter jubelt, er habe Frankreich in die Knie gezwungen.
In Sachen Kolonialvergangenheit tut man in Frankreich, als sei nichts gewesen. Dabei ist das heutige Frankreich auch das Produkt des Kolonialreiches. So klingt bis heute der große Mythos nach, dass jeder Franzose werden kann – durch die Schule. Die französische Gesellschaft pflegt eine regelrechte Religion der laizistischen Integration, die jedoch gegenwärtig nicht funktioniert.
Hat Frankreich als Einwanderungsland also versagt?
Zumindest scheint das angesichts des Dschihadismus heute jeder zu glauben. Vor 30 Jahren war die französische Gesellschaft insgesamt besser integriert, aber damals gab es auch noch Arbeit. In der jungen Generation von heute ist dieses Gefühl eines sozialen Bruchs verbreitet, das durch den kulturellen Bruch des Salafismus verdoppelt wird.
Welche Rolle spielt hier der französische Laizismus? Erweist sich der Ausschluss der Religion aus der öffentlichen Sphäre, der vor allem Muslime betrifft, als Integrationshindernis?
Es gibt mittlerweile fast überall in Frankreich Moscheen. Man kann also nicht sagen, dass Frankreich den Ausdruck der Religion im öffentlichen Raum verhindert.
Und doch wird immer wieder diskutiert, ob der Laizismus vor allem auf individueller Ebene nicht diskriminierend wirkt.
Hier ging es zunächst um das Tragen des Kopftuchs insbesondere in öffentlich finanzierten Schulen. Die UOIF ergriff 1989 die Initiative: Der muslimischen Bevölkerung Frankreichs müsse es möglich sein, den Vorgaben der Religion auf persönlicher Ebene zu entsprechen – etwa durch das Tragen des Kopftuchs als Frau. Die Frage hat das Schulleben geradezu vergiftet, denn Ziel war nicht nur der Ausdruck des Glaubens, sondern auch eines Machtverhältnisses, um eine soziale Kontrolle über die Schulkinder auszuüben und ein Gegengewicht zum Lehrkörper zu schaffen.
Das oberste französische Verwaltungsgericht hat sich damals auf sehr legalistische Art und Weise geäußert und lediglich festgehalten, das Tragen des Kopftuchs sei nur im Falle einer Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung zu unterbinden. Daraus folgten viele widersprüchliche Gerichtsentscheidungen, bis die Laizismus-Kommission unter dem Vorsitz von Bernard Stasi 2003 entschied, das ostentative Tragen religiöser Zeichen in der Schule müsse verboten werden, ob es sich nun um ein Kopftuch, ein Kreuz oder eine Kippa handelt.
Mit ähnlichen Worten haben in diesem Sommer mehrere Bürgermeister versucht, den Burkini an den Stränden Südfrankreichs zu verbieten.
Die „Burkini-Affäre“ hat Frankreich die Kritik großer Teile der internationalen Öffentlichkeit eingehandelt. Bis dahin wurde das vom Terrorismus heimgesuchte Frankreich als Opfer betrachtet. Nun steht Frankreich da wie eine Art Gulag, in dem der Laizismus für die Muslime an die Stelle des Stalinismus tritt.
Natürlich ist diese Angelegenheit ein wenig delikat, aber sie ist auch hochinteressant: Sie fällt in den Sommer, wenn die Gesellschaft mehr oder weniger entblößt ist. Inmitten dieser Nacktheit tauchen komplett in Schwarz gehüllte Frauen auf, und dies zudem am Ort des jüngsten Traumas, des Attentats von Nizza. Das ist ein angstauslösendes Phänomen.
Die städtischen Erlasse zum Verbot des Burkinis sind also zunächst eine Reaktion auf die Angst der Menschen und basieren auf der Annahme, dass es zu Spannungen kommen kann. Zugleich entbehren sie aber einer rechtlichen Grundlage, denn verboten ist seit 2011 lediglich das Verbergen des Gesichts in der Öffentlichkeit. Das oberste französische Verwaltungsgericht hat die Erlasse ja dann auch aufgehoben. Es gibt neben der juristischen aber auch eine politische Dimension, die von den islamistischen Bewegungen instrumentalisiert wird.
Das heißt?
Die gesamte Diskussion über Islamophobie, die sich um die „Burkini-Affäre“ entfaltet hat, steht für eine kontrollierte Weigerung der Muslimbrüder, über die Attentate zu reden. Stattdessen betrachtet man sich als Opfergemeinschaft, die zusammenhalten muss.
Das können wir derzeit auch im Hinblick auf die Wahlen beobachten: Es formiert sich eine Wählerlobby, die die Kandidaten für die Parlamentswahlen 2017 danach bewerten wird, ob sie islamophob sind oder nicht. Natürlich ist das erlaubt, aber es steht doch in eindeutigem Widerspruch zum Fundament des demokratischen Laizismus der Nation. Die Atmosphäre nach den Anschlägen wird genutzt, um kollektive Strategien der sozialen Kontrolle zu entwickeln.
Über die lokale Ebene hinaus und abgesehen von der „Burkini-Affäre“, halten Sie die Antwort der Regierung auf die dschihadistische Bedrohung in Frankreich für angemessen?
Das ursprüngliche Problem besteht darin, dass die Behörden die Denk- und Funktionsweise des Dschihadismus der dritten Generation lange nicht verstanden haben. Jetzt erst fangen sie an, sich ihr anzupassen.
Die Anschläge in Frankreich wurden größtenteils von Personen verübt, die den Behörden bekannt waren.
Die Zahl der erfassten Personen mit einer Verbindung zu Daesh beläuft sich heute auf mindestens 12 000. Was wollen Sie da machen? Diese Personen können nicht alle rund um die Uhr von Polizisten umgeben sein, das übersteigt die Kapazitäten des Staates.
Momentan handeln die Behörden vor allem im Nachhinein, aber auch der Dschihadismus der dritten Generation hat seine Schwächen.
Und welche sind das?
Zum einen gibt es nicht viele Gruppen. Deshalb hat Rachid Kassim im September auch Frauen losgeschickt. Das hat ihm enorme Schwierigkeiten eingehandelt: Er wurde in Daesh-nahen salafistischen Kreisen als Abtrünniger bezeichnet, weil er die Keuschheit der Frauen dem Kampf ausgesetzt hat. Es gibt zum Beispiel Fotos von der Verhaftung, auf denen eine der drei verschleierten Frauen zu sehen ist, wie Polizisten sie am Arm ziehen – für Salafisten der blanke Horror: Ein unreiner Polizist berührt den reinen Körper einer guten salafistischen Muslima.
Zum anderen sind die Akteure nicht ausgebildet. Am 13. November 2015 zum Beispiel sollten die drei Attentäter in Saint-Denis ihre Sprengstoffgürtel eigentlich im Innern des Stade de France, während des Freundschaftsspiels zwischen Frankreich und Deutschland, explodieren lassen und Tausende mit in den Tod reißen. Aber die Sprengstoffgürtel waren nicht besonders gut gefertigt und sind hochgegangen, weil die Leute schwitzten und die Temperatur anstieg. Und vor allem hatten die Attentäter keine Tickets für das Spiel – bei Al-Qaida wären die Eintrittskarten lange im Voraus besorgt worden.
Außerdem begehen sie strategische Fehler. Für den gezielten Angriff auf die Redaktion von „Charlie Hebdo“ haben die Dschihadisten noch große Anerkennung geerntet, aber am 13. November 2015 und auch in Nizza haben sie sehr viele Muslime getötet. Das sorgt nicht gerade für Identifikation. Und selbst wenn die Dschihadisten sich zu Märtyrern im Namen des Islam erklären, entfalten solche Akte keine Mobilisierungskraft, und um die geht es nach wie vor.
Dennoch besteht derzeit die Gefahr eines identitären Bruchs in der Gesellschaft, im Zuge dessen Muslimen abgesprochen wird, Franzosen zu sein, und sie politisch und sozial ausgegrenzt werden. Sowohl in Frankreich als auch in Deutschland äußert sich das bereits durch den frappierenden Anstieg der Wählerstimmen am rechten Rand.
Was den Dschihadisten wiederum sehr gelegen kommt.
Natürlich. Die Dschihadisten lieben die extreme Rechte, denn sie bestätigt sie darin, dass die französische Gesellschaft ohnehin rassistisch, exklusiv und xenophob ist und die Integration nichts als ein Mythos.
Wie versucht die Regierung, einer solchen Spaltung der Gesellschaft entgegenzuwirken?
Wir befinden uns bereits mitten im Wahlkampf, und die Präsidentschaftskandidaten begehen eine Eselei nach der anderen. Wir stehen vor einer echten nationalen Herausforderung, und die besteht nicht darin, auf Stimmenfang zu gehen und dabei die Gesellschaft noch weiter zu spalten. Was wir brauchen, ist eine ehrliche Diskussion darüber, was die Herausforderung des Dschihadismus genau bedeutet.
Und was bedeutet sie beispielsweise für den Umgang mit Dschihadisten im Sinne einer Deradikalisierung?
Das werde ich in Deutschland viel gefragt. Aber um über Deradikalisierung sprechen zu können, muss zunächst einmal eindeutig sein, was Radikalisierung ist, und darüber sind wir uns noch nicht im Klaren. In der Not haben die Behörden in Frankreich horrende Summen an Scharlatane gezahlt, die glauben gemacht haben, das Problem mit Pflaster und Aspirin regeln zu können.
Was halten Sie für notwendig?
Meine Aufgabenstellung ist die Diagnose. Als Akademiker analysiere ich und erkläre, aber ich therapiere nicht. Auf der Basis einer Diagnose – auch wenn sie bestritten werden kann und genau das passiert – können anschließend die politischen Entscheidungsträger aufbauen. So funktioniert es auch in der Medizin: Wenn es zu einer Pandemie kommt, werden Milliarden in die Forschung investiert. Danach sucht man erst nach einer Therapie.In diesem Fall wurde aber rein gar nichts investiert. In Frankreich ist die Forschung zur arabischen Welt im Laufe der beiden letzten Legislaturperioden eingestampft, bei Sciences Po Paris sogar vollkommen eingestellt worden – seit sieben Jahren bilde ich niemanden mehr aus.
Das Interview führte Anne-Sophie Friedel am 27. Oktober 2016 in Karlsruhe. Übersetzung aus dem Französischen: Sandra Uhlig, Bonn.
GILLES KEPEL ist Politik und Sozialwissenschaftler und Professor am Institut d’Etudes politiques in Paris. Zuletzt veröfentlichte er die Bände „Terror in Frankreich. Der neue Dschihad in Europa“ beim Verlag Antje Kunstmann sowie „La Fracture“ bei Gallimard. gilles.kepel@sciencespo.
Das Gespräch wurde erstmals veröffentlicht in „Aus Politik und Zeitgeschichte“ APuZ Ausgabe 48/2016, Herausgegeben von der Bundeszentrale für politische Bildung. Wir bedanken uns bei Anne-Sophie Friedel für die Zustimmung zur Zweitverwendung.