Interniert, entrechtet, vergessen – Flüchtlinge und Migranten in Griechenland
Interniert, entrechtet, vergessen – Flüchtlinge und Migranten in Griechenland

Interniert, entrechtet, vergessen – Flüchtlinge und Migranten in Griechenland

Ein Gastbeitrag von Elena Panagiotidis, Fylakio

In Griechenland werden illegal eingereiste Flüchtlinge und Migranten, die ohne gültige Papiere aufgegriffen werden, oft monatelang eingesperrt. Ihre Rechte werden missachtet. Betroffen sind auch Minderjährige.

Die Schwalben haben sich in der linken oberen Fensterecke ihr Nest gebaut. Unermüdlich fliegen sie hin und her, um ihr Heim noch kuschliger zu gestalten. Lässt man den Blick weiter aus dem Fenster streifen, sieht man hinter hohen, mit Stacheldraht befestigten Zäunen Militärbaracken. Dahinter ragen die Berge der Rhodopen in den Himmel. Drinnen im kargen Zimmer schildert der Polizist Stelios Papadopoulos die Zustände im Internierungslager Paranesti. Den 283 Personen – Flüchtlingen und Migranten ohne Papiere – gewähre man «Gastfreundschaft», sagt er.

«Gastfreundschaft des Zeus»
Lager wie in Paranesti sind keine Neuheit in Griechenland. Weil es ein Staat mit EU-Aussengrenze ist, führen viele Transitrouten Flüchtlinge und Migranten ohne gültige Papiere, die in die EU wollen, zunächst nach Griechenland.

Seit 2012 ist die Zahl der Lager und der Inhaftierten jedoch nochmals angewachsen. Vielfach hat die griechische Regierung über Nacht im ganzen Land neue Internierungslager aus dem Boden gestampft. Seit dem Oktober 2012 dürfen Asylsuchende und Migranten bis zu 18 Monate in Griechenland inhaftiert werden. In die Lager werden vor allem Migranten verfrachtet, die ohne gültige Papiere bei Razzien im Rahmen der Aktion «Xenion Zeus» (Gastfreundschaft des Zeus) aufgegriffen werden. Mit der Errichtung der Internierungslager will die Koalitionsregierung unter dem konservativen Ministerpräsidenten Antonis Samaras entschlossenes Vorgehen gegen die «Illegalen» demonstrieren.

Die genaue Zahl der Lager ist nicht klar. Die in Genf ansässige Organisation Global Detention Project listete im letzten Herbst 11 längerfristig angelegte Internierungslager sowie mindestens 16 weitere Grenzschutz- und Polizeiposten auf, die zu denselben Zwecken benutzt werden. Schätzungen gehen von über 6500 Personen aus, die in den offiziellen Lagern inhaftiert sind. Dazu kommen noch Migranten und Asylbewerber, die in den Gefängnissen verschiedener Polizeiposten festgehalten werden, die dafür allerdings noch weniger ausgerüstet sind als die offiziellen Einrichtungen.

Viele Internierungslager befinden sich in den Rhodopen, einer abgeschiedenen Gegend im Nordosten Griechenlands, sowie im Evros-Gebiet entlang der Grenze zur Türkei. Das Abschiebegefängnis in Paranesti geriet im Oktober 2012 in die Schlagzeilen, als die Regierung über Nacht Dutzende von Migranten und Flüchtlingen aus anderen Lagern in die verlassenen Kasernengebäude nahe der bulgarischen Grenze bringen liess. Die Einwohner des Ortes protestierten, sogar Schüsse fielen, so dass Einheiten der Sonderpolizei aus Thessaloniki anrücken mussten.

Auch Minderjährige betroffen

Paranesti ist eines der wenigen Lager, in denen Minderjährige separat untergebracht sind, wie es die EU-Richtlinien vorsehen. Drei Minderjährige gebe es im Lager, teilt die Polizei mit. Durch den Zaun können wir mit einem Jugendlichen namens Ali sprechen. Ein Polizist schaut vom Wachturm herunter. Ali stammt aus Afghanistan, der 17-Jährige hält einen Zeichenblock unter dem Arm. Er spricht ein paar Worte Englisch, dann kommt ein Dolmetscher hinzu, und dass es einen solchen gibt, ist bereits ein Fortschritt. Ali will nach Hamburg, wo sein Vater lebt. Doch nach einer Odyssee durch Griechenland ist er seit einem Jahr in diesem Gefängnis im Niemandsland.

Ali zeigt stolz das neuste Bild, das er gezeichnet hat. Weisse Vögel durchbrechen eine rote Backsteinmauer und steigen in den blauen Himmel auf. In griechischen Buchstaben hat er das Wort «Eleftheria» (Freiheit) dazugeschrieben. Ali könne gut malen, sagt Merrikhi Garsivaz lobend. Der Dolmetscher versucht, den Kindern, die hier hinter Zäunen gehalten werden, das Leben erträglicher zu machen. «Hier werden sie verrückt», sagt Garsivaz, «auch wenn sie zuvor keine psychischen Probleme hatten.» Schulunterricht gibt es keinen. Nicht einmal einen Ball hätten die Kinder. Der letzte sei im Stacheldraht kaputtgegangen.

Gedanken an Selbstmord

Auch in den Internierungslagern in Komotini und Fylakio weiter östlich treffen wir auf Minderjährige. Ein Mitarbeiter des griechischen Flüchtlingsrats, der in Komotini die Internierten rechtlich berät, kritisiert die Methoden, mit denen versucht wird, ihr Alter zu bestimmen. Es werde das Handwurzelgelenk geröntgt. Doch diese Methode sei nicht zuverlässig. «Kinder in Afghanistan arbeiten von Kindesbeinen an, während ein griechisches Kind vielleicht mit 18 Jahren mal einen Schraubenzieher zur Hand nimmt», sagt er. Selten werde im Zweifelsfall das Alter zugunsten der Betroffenen ausgelegt.

Dies kritisieren auch Amnesty International und Médecins Sans Frontières (MSF). Dagegen behaupten die Zuständigen in Komotini und Fylakio, dass es in ihren Lagern keine Minderjährigen gebe. So auch Paschalis Siritoudis, der als Polizeidirektor von Orestiada für das Abschiebelager in Fylakio unweit der türkischen Grenze verantwortlich ist. Das Lager steht seit Jahren in der Kritik. Derzeit sollen 291 Personen hier interniert sein, unter ihnen sieben Frauen. Siritoudis berichtet von der Migrationserfahrung seines Vaters, der in Deutschland arbeitete, von Dorfbewohnern, die Kleider für die Flüchtlinge spendeten. Eine Bibliothek habe man eingerichtet, Korane und Sportgeräte beschafft, bald werde es ein Gärtchen geben.

Siritoudis sagt: «Nicht alles ist toll hier. Und ich betone: Die Leute haben kein Verbrechen begangen.» Im Gegensatz zu Komotini und Paranesti lässt man uns hier anstandslos zu den Internierten. Mehrere Dutzend Personen teilen sich eine Zelle. Die Etagenbetten stehen ohne Abstand nebeneinander, manche sind mit Decken abgetrennt, um einen Hauch von Privatsphäre vorzutäuschen. Die Knaben und Männer klettern über die oberen Betten zur Zellentür, weil es dazwischen im Gang kaum Platz hat. Tageslicht schimmert nur schwach durch die Fensterspalten am Ende einer jeden Zelle.

Draussen im Gang plärrt ein griechischer Fernsehsender, den die Männer durch die Gitterstäbe verfolgen können. Das laufende Programm zeigt einen Affen im Zoo, der sich den Bauch kratzt. «Wie lange müssen wir hier bleiben?», fragt Jumale Molit, ein junger Somalier, der seit sieben Monaten im Lager ist. Sein Freund Mohammed Cire sagt, er sei 17 Jahre alt. Beide berichten von Selbstmordgedanken. Das Leben im Lager sei unerträglich. «Bitte helft uns», flehen die jungen Männer.

Somalier und Eritreer dürfen auch in Griechenland nicht abgeschoben werden. MSF kritisiert deshalb, dass die Inhaftierung nicht den Zweck einer Rückkehr verfolge und daher eine unverhältnismässige und sinnlose Massnahme darstelle, die zudem die Gesundheit der Internierten gefährde.

Ein Knabe hat Angst vor Vergewaltigung

In der Tat ist die Gefahr von ansteckenden Krankheiten gross. In Fylakio zeigen uns Flüchtlinge ihre von MSF ausgestellten Gesundheitshefte. Dort sind unter anderem Hepatitis oder Diabetes vermerkt. Doch eine kontinuierliche Behandlung ist nicht gewährleistet. «Wir können ihnen für alle Probleme nur Paracetamol geben», mischt sich ein Polizist ein, der die Gespräche mit anhört. «Wir haben nichts anderes.» Dass der generelle Kollaps des griechischen Gesundheitssystems besonders die Schwächsten trifft, zeigt sich in den Internierungslagern einmal mehr.

Für minderjährige Inhaftierte drohen weitere Gefahren. Zusammen in der Zelle mit den jungen Somaliern ist Abdul Samat Parwiz untergebracht. Der Knabe sieht verstört aus. Er sei 17, sagt er und zeigt das Schreiben einer Behörde, das ihm bescheinigt, gemäss seinem Gesicht 15 Jahre alt zu sein. Doch von den Polizisten glaube ihm niemand, dass er minderjährig sei. Abdul Samats grösste Angst ist, im Lager vergewaltigt zu werden. Entsprechende Drohungen habe er bereits erhalten, weil er der jüngste und schmächtigste sei. Vor Angst könne er nicht mehr schlafen. Der Dolmetscher bestätigt, dass die Gefahr für Samat gross sei, Opfer von Missbrauch zu werden. Der Knabe müsse dringend in einem speziellen Ort für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge untergebracht werden.

Für die Nato gearbeitet

Die Geschichten, die die Internierten erzählen, ähneln sich. Es sind Geschichten von meist jungen Männern, die vor dem Krieg in ihrer Heimat oder der Perspektivlosigkeit geflohen sind. Fast immer fällt der Satz: «Wir sind doch auch Menschen. Warum behandelt ihr uns so?» Zu ihnen zählt auch Mohammad Fahim Mehrabi in Komotini. Der 24-jährige Afghane übersetzt ins Englische oder Französische für seine Mitgefangenen, die alle gerne ihre Geschichten loswerden wollen.

Erst dann sagt er etwas über sich selber. Er habe zwischen Mai 2011 und November 2012 für die französische Armee in Kabul als Dolmetscher gearbeitet. Nach ihrem Abzug sei er bedroht worden und habe seine Heimat verlassen müssen. Seit bald zwei Monaten ist er in Komotini gefangen, einem der berüchtigtsten Internierungslager. Die Flüchtlinge hier haben nur zwei Stunden am Tag Hofgang. Selbst den Rechtsberatern des Flüchtlingsrats ist es nicht erlaubt, in das Innere der Gebäude zu ihren Mandanten zu gelangen. Videoaufnahmen von MSF zeigen Exkremente, die wegen fehlender sanitärer Einrichtungen über die Flure fliessen. Mehrere der Inhaftierten haben in den letzten Monaten versucht, sich das Leben zu nehmen. Direkt an das gelbe Gebäude in Fylakio mit seinen überfüllten Zellen schliesst ein weiteres Grundstück mit einer neuen Containersiedlung an. In einem Container stapeln sich neue Matratzen, die noch in Plastic verpackt sind, während im anderen Gebäude zum Teil Kartons als Matratzen dienen müssen. Allerdings sind in den Containern kaum Menschen untergebracht. Bei der Containersiedlung handelt es sich um eine sogenannte Erstaufnahmeeinrichtung. Sie untersteht der neuen griechischen Asylbehörde, die im Juni 2013 ihre Arbeit aufgenommen hat und nicht mehr der Polizei unterstellt ist. Hier werden Flüchtlinge, die ankommen, registriert, medizinisch behandelt, und sie können einen Asylantrag stellen.

Das Containerzentrum wurde noch zu Zeiten geplant, als – im Jahr 2012 – bis zu 300 Flüchtlinge pro Tag die griechisch-türkische Landgrenze überquerten. Doch seit ein zwölf Kilometer langer Zaun neben dem Grenzfluss Evros die Landgrenze abriegelt, haben sich die Transitrouten wieder in die Ägäis verschoben. Daher leben jetzt in dieser Einrichtung nur eine Handvoll Personen. Ob man nicht vielleicht die Minderjährigen aus dem Lager hier unterbringen kann? Oder wenigstens ein paar der sauberen Matratzen herüberschaffen? Christos Christakoudis, der das Erstaufnahmezentrum leitet, erklärt bedauernd, die Zentren hätten nichts miteinander zu tun. Das liege nicht in seiner Verantwortung.

Bis zu 25 Tage können Migranten und Flüchtlinge in den Erstaufnahmeeinrichtungen bleiben. Danach laufen sie Gefahr, in einem Internierungslager zu landen. Zudem bleiben die alten Verfahren dem alten System unterworfen. Viele Asylgesuche sind anhängig. So werden derzeit diejenigen Fälle bearbeitet, die zwischen 2006 und 2007 in erster Instanz negativ beschieden wurden. Es soll sich um 45 000 Personen handeln. Die Anerkennungsrate in der ersten Instanz liegt in Griechenland bei weniger als einem Prozent.

Über Nacht ein «Illegaler»

Doch nicht nur Männer, die ihren Asylantrag nicht rechtzeitig stellen konnten oder aufgrund des defizitären griechischen Asylsystems ihre Papiere nicht verlängern konnten, werden in den Internierungslagern festgehalten. Es hat auch solche, die zum Teil jahrzehntelang legal im Land gearbeitet haben, wie Ali Basharat aus Rawalpindi. Der Pakistaner lebt seit 1998 in Griechenland, er hat jahrelang legal gearbeitet. Doch mit der Krise verlor der 45-jährige Vater von vier Kindern seine Arbeit, konnte die Sozialversicherung nicht mehr bezahlen und wurde damit über Nacht «illegal».

Seit Januar 2013 sitzt der Diabetiker im Gefängnis. «Ich brauche einen Anwalt», sagt er und stützt sich gegen die Gittertür. Doch die wenigen Rechtsberater einer Organisation, die kostenlos arbeiten, sind mit der schieren Anzahl von Fällen überfordert. Von vielen Flüchtlingen, die sich privat Anwälte organisiert haben, hören wir, dass diese das Geld im Voraus nähmen und dann nie wieder von sich hören liessen.

Vonseiten der EU wurde das griechische Asylsystem zwar mehrmals kritisiert, doch finanziell wird vor allem die Grenzsicherung unterstützt. Griechenland hat von der EU-Kommission seit 2011 rund 230 Millionen Euro für die Sicherung seiner Aussengrenzen und für Abschiebungen erhalten. Lediglich 20 Millionen wurden für die Verbesserung des Asylsystems bereitgestellt.

Abschreckung und Zermürbung ist die Taktik. «Wir sehen uns einer neuen Generation von Internierungslagern gegenüber», sagt Nikos Nikisianis von der Antirassistischen Initiative in Thessaloniki. Das eigentliche Problem seien nicht die Bedingungen in den Lagern, sondern der rechtliche Status der Menschen, der sich ständig verschlechtere. Der Professor für Rechtsphilosophie Andreas Takis von der Universität von Thessaloniki sagt: «Inzwischen ist Internierung zum Selbstzweck geworden.»

i Haftzeit über die 18 Monate hinaus verlängert

Während der Recherche-Reise durch die Internierungslager versicherten sämtliche Lagerleiter, die Internierten freizulassen, sobald diese achtzehn Monate lang inhaftiert seien – womit die EU-Regelung, die sogenannte Rückführungsrichtlinie, die achtzehn Monate Abschiebehaft eigentlich nur als letztes Mittel vorsieht, schon maximal ausgereizt ist. 2009 urteilte der Europäische Gerichtshof, dass die Rückführungsrichtlinie in keinem Fall erlaubt, die Haftzeit von achtzehn Monaten zu überschreiten, auch wenn die betreffende Person keine gültigen Papiere habe, sich aggressiv verhalte oder sich nicht selber versorgen könne. Anfang April gab es in Griechenland eine neue Anweisung: Nun sollen Personen, die nicht freiwillig in ihre Herkunftsländer zurückwollen und nicht kooperieren, im «nationalen und europäischen Interesse» über die achtzehn Monate hinaus weiter festgehalten werden können. In Komotini und Xanthi reagierten die Häftlinge mit Hungerstreik. Internierte, die per Telefon in Fylakio erreicht werden konnten, sagten, seit die neue Regelung in Kraft sei, sei die Atmosphäre zunehmend aggressiv. Die Anordnung ist laut dem Griechischen Flüchtlingsrat eine klare Verletzung von Griechenlands Verpflichtungen. Ein erstes Gerichtsurteil gibt ihm darin Recht.

Dank
Wir bedanken uns bei der Neue Zürcher Zeitung (NZZ) und Elena Panagiotidis für die Zustimmung zur Zweitverwertung. Der Beitrag erschien in der NZZ am 16. Juni 2014.

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